Verschlafene Pensionärsstadt schlägt alte Handelsmetropole

Bonn oder Frankfurt? Als nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, war lange unklar, wo die Regierung des neuen Staates sitzen sollte.

Für den Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb (SPD) war klar, dass die Wahl auf seine Stadt fallen würde. Und er nahm schon mal eine Rundfunkansprache auf, in der er das Wichtigste gleich zum Anfang klarstellen wollte: Nein, ein Gefühl des Triumphs gegenüber anderen Mitbewerber-Städten gebe es nicht. Die provisorische Hauptstadt für die neu gegründete Bundesrepublik sei nach rein praktischen Gründen ausgewählt worden. Viele Menschen hätten ja gar nicht verstanden, warum es überhaupt Streit gegeben habe. „Nun aber hat die Vernunft gesiegt“, erklärte der Stadtvater versöhnlich. „Möge der Geist dieser Entscheidung auch die künftige Arbeit der Bundesorgane bestimmen.“

Die Worte des stolzen Oberbürgermeisters an die „lieben deutschen Landsleute“ und die Bürger Frankfurts wurde nie gesendet. Denn am 10. Mai 1949, zwei Tage nach Verabschiedung des Grundgesetzes, gab der Parlamentarische Rat völlig überraschend mit knapper Mehrheit von 33 zu 29 Stimmen Bonn den Vorzug in der Hauptstadtfrage. Die Kolb-Rede wanderte als zeitgeschichtliche Kuriosität ins Archiv des Hessischen Rundfunks. Dessen heutiges Frankfurter Funkhaus war etwas voreilig schon als Plenarsaal für den künftigen Bundestag gebaut worden.

Seit die westlichen Alliierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegt hatten, aus ihren drei Besatzungszonen einen separaten westdeutschen Staat zu formen, stand die Frage im Raum, wo sich der provisorische Regierungssitz befinden sollte. Den Begriff „Hauptstadt“ vermieden die Politiker, weil zumindest offiziell alle noch auf die baldige Wiedervereinigung hofften. Die Westsektoren Berlins kamen aus naheliegenden Gründen nicht als Sitz von Parlament und Regierung infrage, und nachdem die Bewerbungen von Kassel und Stuttgart schnell verworfen wurden, lief alles auf einen Zweikampf zwischen Frankfurt am Main und Bonn hinaus.

Frankfurt hatte von Anfang an die klare Favoritenrolle – als Verwaltungssitz der britisch-amerikanischen Besatzungsbehörden, Standort der Bank deutscher Länder und dank der Paulskirche als Symbol für die deutsche Demokratiebewegung.

„Bonn war eine etwas verschlafene Pensionärs- und Universitätsstadt“, sagt Holger Löttel von der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Bad Honnef bei Bonn. Und genau das war ein Vorteil: „Das wirkte viel stärker als Provisorium.“

Für die Provinzstadt am Rhein fielen noch zwei weitere Dinge in die Waagschale: Zum einen tagte dort bereits der Parlamentarische Rat, in dem einflussreiche Persönlichkeiten unter dem Vorsitz des späteren Bundeskanzlers Konrad Adenauer (CDU) über das Grundgesetz für die Bundesrepublik berieten. Während der Sitzungen fanden viele der Beteiligten Gefallen an Bonn. Außerdem wurde Adenauer selbst, der seit 1935 auf der gegenüberliegenden Rheinseite im Bad Honnefer Stadtteil Rhöndorf lebte, zu einem entschiedenen Fürsprecher der Stadt.

„Adenauer hat hinter den Kulissen politisch die Strippen gezogen“, sagt Löttel. Ein Regierungssitz so weit im Westen habe gut zu dessen außen- und deutschlandpolitischen Vorstellungen gepasst. Die SPD-Delegierten im Parlamentarischen Rat wurden unterdessen von Parteichef Kurt Schumacher auf Frankfurt eingeschworen. „Die Hauptstadtfrage war das erste parteipolitische Kräftemessen zwischen CDU und SPD“, erklärt der Historiker.

Jedoch wollten auch die hessischen CDU-Abgeordneten für die Stadt am Main stimmen. Die Mehrheit zugunsten von Frankfurt schien dadurch klar zu sein. „Zu lange hatte die Stadt der Paulskirche und der Bizonenverwaltung darauf gebaut, dass ihr die Erhebung zur Hauptstadt in den Schoß fallen würde“, urteilt der Frankfurter Stadthistoriker Thomas Bauer. Die Lobby für Bonn sei hingegen „auf Zack“ gewesen.

Unmittelbar vor der Abstimmung drehten sich die Mehrheitsverhältnisse. Adenauer hatte unter Parteifreunden eine nie veröffentlichte Agenturmeldung verbreiten lassen, der zufolge sein Rivale Schumacher angeblich intern erklärt habe, die Pro-Frankfurt-Entscheidung komme einer krachenden Niederlage der zerstrittenen CDU gleich. Das wollten die Christdemokraten nicht auf sich sitzenlassen und schlossen ihre Reihen. Am 3. November 1949 bestätigte der erste Bundestag die Entscheidung zugunsten von Bonn mit 200 gegen 176 Stimmen.

Rund ein Jahr nach Gründung der Bundesrepublik berichtete das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ unter Berufung auf Vertreter der damals noch im Bundestag vertretenen Bayernpartei, es seien etwa 100 Abgeordnete bestochen worden, damit sie für Bonn stimmten, insgesamt seien rund zwei Millionen DM geflossen. Ein Untersuchungsausschuss wurde eingesetzt, er konnte die Zahlungen jedoch nicht zweifelsfrei beweisen.

Was als Provisorium gedacht war, hielt gut 40 Jahre: Nach der friedlichen Revolution und der deutschen Einigung wurde Berlin Hauptstadt, 1991 beschloss der Bundestag den Umzug.