„Wer schweigt, macht sich mitschuldig“

Mit einer Gedenkstunde im Bundestag und Kranzniederlegungen in Berlin hat die Bundespolitik am Mittwoch der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Im Bundestag appellierten die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi und Marcel Reif als Sohn eines Überlebenden, menschlich im Umgang miteinander zu sein und bei Anfeindungen und Ausgrenzungen nicht wegzuschauen. „Wer schweigt, macht sich mitschuldig“, sagte Szepesi, die das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hat, im Bundestag. Die Schoah habe nicht mit Auschwitz begonnen, sondern mit Worten sowie dem Schweigen und Wegschauen der Gesellschaft, sagte die 91-Jährige.

Mit den Reden von Szepesi und dem nach dem Holocaust geborenen Reif verband der Bundestag die Idee eines generationenübergreifenden Erinnerns. Szepesi berichtete eindrücklich von den Gräueln der Nationalsozialisten, die sie als Kind erlebte: die Ausgrenzung in Ungarn als Teil einer jüdischen Familie, die Zwangsarbeit des Vaters, die eigene Flucht nach der Besetzung durch die Deutschen, die Deportation nach Auschwitz und die völlige Entkräftung im Lager. Die damals 12-Jährige erlebt die Befreiung durch die sowjetische Armee. „Es war der 27. Januar 1945 – und ich lebte“, sagte sie.

Reif schilderte in seiner Rede, dass sein Vater, ein polnischer Jude, der aus einem Deportationszug der Nazis gerettet wurde, nie über das Erlebte sprach. „Wir sollten, wir durften nicht in jedem Postboten, Bäcker, Straßenbahnfahrer einen möglichen Mörder unserer Großeltern vermuten“, sagte Reif, der das Vermächtnis seines Vaters mit dessen Satz zusammenfasste: „Sei ein Mensch.“ Sichtlich bewegt applaudierten die Zuhörerinnen und Zuhörer nach beiden Reden stehend.

Auch Szepesi hatte nach dem Holocaust lange geschwiegen. Erst seit 1995 fasst sie in Worte, was sie erlebt hat, spricht als Zeitzeugin in Schulen. Nie sei es wichtiger gewesen als jetzt, Zeugnis abzulegen, „denn ‚Nie wieder‘ ist jetzt“, sagte sie. Sie wünsche sich, dass nicht nur an Gedenktagen und nicht nur an die ermordeten Opfer des Holocaust erinnert werde, sondern auch an die Überlebenden. „Sie brauchen jetzt Schutz.“ Szepisi beklagte ein „lautes Schweigen der Mitte der Gesellschaft“ und „Gespräche, die mit ‚Ja, aber‘ beginnen“, nachdem auch in Deutschland die Zahl antisemitischer Angriffe seit dem Terrorangriff der Hamas aus Israel zugenommen hat.

Auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) forderte zu einem entschiedenen Auftreten gegen Antisemitismus und Rassismus auf. Judenhass sei kein Problem nur der Vergangenheit. „Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart“, sagte Bas. In der Haushaltsdebatte, die nach der Gedenkstunde auf dem Plan des Bundestags stand, bezog sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf die Worte Szepesis. Er forderte „ein ganz klares Bekenntnis von uns allen“ zu den Rechten aller in Deutschland lebenden Menschen und verwies auf die Berichte über Pläne rechtsextremer Netzwerke zur Vertreibung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Das Wort „Remigration“ erinnere an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte, sagte er.

Seit der damalige Bundespräsident Roman Herzog den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zum Gedenktag erklärt hatte, findet rund um den 27. Januar die Gedenkstunde im Bundestag statt. Am Mittwoch legten zudem die Beauftragten der Bundesregierung gegen Antisemitismus und Antiziganismus, für Antidiskriminierung, Integration, sexuelle Vielfahrt und Menschen mit Behinderungen erstmals Kränze zum Gedenken an die verschiedenen Opfergruppen des Nationalsozialismus nieder.

Sie erklärten, das Gedenken an die Millionen Opfer falle in eine Zeit, in der sich unzählige Menschen durch rechtsextremistische Vertreibungspläne existenziell bedroht fühlten. „Kein Mensch in unserem Land darf jemals um die eigene Sicherheit fürchten müssen, weil er einer Gruppe angehört, gegen die sich menschenfeindliche und mörderische Ideologien richten“, heißt es in der Erklärung.

Der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel erinnerte an dem Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde an die Hunderttausende von den Nazis getöteten behinderten Menschen. Mehr als 400.000 Menschen seien zudem zwangssterilisiert worden. „Hinter jeder dieser unfassbar großen Zahl steht eine individuelle Leidensgeschichte“, sagte Dusel.