„Ohne das Gelingen der Flucht meiner Mutter wäre ich nicht hier“
Eva Lezzi ist Kinder- und Jugendbuchautorin und schreibt in ihren Büchern über jüdischen Alltag in Deutschland. Ihre Mutter kam aus Berlin, hat den 9. November 1938 als knapp Dreijährige miterlebt. Kurz vor Kriegsausbruch 1939 wurde sie mit Fluchthelfern nach Frankreich geschickt, später gelang ihr die Flucht in die Schweiz.
Eva Lezzi wurde in New York geboren und wuchs in Zürich auf. Später kam sie zum Studium nach Berlin – in die ursprüngliche Heimat ihrer Mutter – und wurde hier Germanistikdozentin an der Universität Potsdam, bevor sie sich dem fiktionalen Schreiben widmete. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit ihr am Mittwoch in Berlin über jüdische Kinderbücher, den Nahost-Konflikt – und warum ihr Herz für Geflüchtete schlägt.
KNA: Frau Lezzi, Sie schreiben Kinderbücher über jüdisches Leben in Deutschland. Wie kam es dazu?
Lezzi: Bevor im Jahr 2010 unser erstes Buch erschien, gab es im deutschsprachigen Raum kaum etwas dazu. Es gab zwar Kinderliteratur über den Holocaust oder biblische Geschichten. Aber nur sehr wenige Bücher über jüdisches Leben im heutigen Deutschland, über jüdischen Alltag. Und dann kam hinzu, dass bei meinem Sohn in der Schule der Holocaust thematisiert werden sollte. Da dachte ich, ich schreibe lieber selbst etwas über Juden und Judentum.
KNA: Zum Beispiel über Beni und die Bat Mitzwa oder Beni und Pessach…
Lezzi: Ja, eine Bilderbuchreihe für Grundschülerinnen und -schüler von sechs bis zwölf, die von der Künstlerin Anna Adam illustriert wurde: Wir wollten uns dem jüdischen Alltag nicht nur über das Wort, sondern auch über Bilder, über Kunst nähern. Es ist wichtig, dass man Kinder aus verschiedenen Ecken abholt.
KNA: Sind Ihre Bücher für jüdische oder nicht-jüdische Kinder?
Lezzi: Ich versuche, für jüdische und nicht-jüdische Kinder zu schreiben. Jüdische Kinder sollen dadurch vor allem Zugang zu ihren Lebenswelten haben, sich wiederfinden. Aber meistens lese ich – in Schulen zumindest – eher vor nicht-jüdischem Publikum. Deshalb gibt es auch in allen unseren Büchern ein Glossar: von Challe (Hefezopf) bis Jesus oder Skateboardtricks. Das zeigt, dass nicht nur das Jüdische erklärungsbedürftig ist.
KNA: Wie reagieren die Kinder auf Ihre Bücher?
Lezzi: Sehr interessiert. Manche fragen auch, ob ich berühmt bin. Das bin ich – aber nur in jüdischen Kreisen. (lacht)
KNA: Thematisieren Sie auch Antisemitismus?
Lezzi: Mein Ansatz in den Kinderbüchern und an Grundschulen ist etwas anders. Ich gehe klar als jüdische Autorin mit jüdischen Themen in die Schulen. Aber ich versuche eher grundsätzlich, Neugier für andere Lebenswelten zu wecken und auch selbst neugierig für die Lebenswelten der Schüler und Schülerinnen zu bleiben. Mein Ethos ist die Offenheit. Ich gebe auch Schreibworkshops an Schulen. Und dann geht es nicht darum, dass sie nachher schreiben, was ist Antisemitismus und was ist ein Jude? Sondern: Was heißt es, anders zu sein, was heißt es, ich selber zu sein, was sind Vorurteile? Mein Ziel ist, Empathie zu wecken.
KNA: Was wissen die Schüler und Schülerinnen übers Judentum?
Lezzi: Das ist sehr unterschiedlich. In Berlin etwa merkt man schon, dass es einen großen religionsfernen Anteil in der Schülerschaft gibt. In anderen Regionen Deutschlands ist das anders. Viele sind aber noch nie einem Juden oder einer Jüdin begegnet. Was manchmal durcheinander geht, ist, dass jüdisch mit israelisch gleichgesetzt wird. Manche glauben, dass jeder Jude hebräisch spricht. Da muss man einiges zurecht rücken.
KNA: In Ihrem Jugendbuch „Die Jagd nach dem Kidduschbecher“ geht es um den Nahostkonflikt: Sie behandeln das Thema aus der unterschiedlichen Perspektive zweier Berliner Freundinnen, Rebecca und Samira, die eine ist Jüdin, die andere Muslimin. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern sät Misstrauen zwischen ihnen.
Lezzi: Ich habe das Buch als Reaktion auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und Gaza im Jahr 2014 geschrieben. Der Fokus liegt jedoch auf Deutschland. Ich thematisiere in diesem Buch auch Antisemitismus auf dem Schulhof oder islamfeindliche Einstellungen. Das Buch ist für elf- bis 14-Jährige, in diesem Alter sind Kinder und Jugendliche sehr gesprächsoffen. Wenn ich das Buch in Schulen lese, kann ich mir der Aufmerksamkeit vor allem seitens der muslimischen Schüler sicher sein: Sie sehen sich gespiegelt, hören sich aber auch die andere Seite an. Hinzu kommt, dass in unseren Schulen sehr selten Bücher gelesen werden, in denen es um migrantisches Leben geht. Deshalb nehmen die muslimischen Schüler mich und meine Bücher mit Begeisterung auf.
KNA: Das war allerdings vor dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober…
Lezzi: Ja, seitdem bin ich noch nicht wieder für Lesungen an Schulen eingeladen worden. Es gibt eine große Verunsicherung seitens der Schüler- und Lehrerschaft und auch viel Angst. Gerade ist einfach alles schmerzhaft aktuell; alle verfolgen am Handy, was im Nahen Osten passiert.
KNA: Haben Sie Kontakt nach Israel?
Lezzi: Ja, ich habe eine große jüdische Familie und Freunde in Israel. Hier in Berlin habe ich auch Freunde und Bekannte mit Familie in Gaza. Es ist sehr schwer und emotional kaum auszuhalten, von so verschiedenen Seiten Informationen zu bekommen. Mein Anspruch ist dennoch, nach beiden Seiten hin offen zu bleiben.
KNA: Wie beurteilen Sie die Situation in Israel und hierzulande?
Lezzi: Der Krieg von 2014 war schlimm, aber schlimmer ist es jetzt. Und zwar sowohl in Israel aufgrund des Terrorangriffs der Hamas, als auch in Gaza aufgrund der Bombardierungen durch das israelische Militär. Es ist eine wahnsinnige Katastrophe. Bei uns und weltweit ist der Antisemitismus unvergleichlich größer als 2014, wahrscheinlich weil er durch die Sozialen Medien noch verstärkt wird. Aber auch die Islamfeindlichkeit ist hier in Deutschland größer, angeheizt durch populistische Aussagen.
KNA: Inwiefern?
Lezzi: Wenn in einer solchen Situation noch Rhetoriken von Politikern dazukommen, die Abschiebungen im großen Stil fordern, ist das kontraproduktiv. Es gibt einen von bestimmten muslimischen Gruppen ausgehenden Antisemitismus auf den Straßen hierzulande, der ist bedrohlich und muss strafrechtlich sanktioniert werden. Das steht außer Zweifel.
Aber es gibt auch einen politischen Diskurs, der etwas daraus schlägt, wogegen ich mich heftig wehre – nämlich ein gegeneinander Ausspielen von jüdischen und muslimischen Minderheiten und Positionen. Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft und damit müssen – oder besser gesagt: dürfen wir – immer weiter umgehen. Ich halte Diversität für wichtig und möchte eine Spaltung zwischen jüdisch und muslimisch nicht unterstützen. Im Gegenteil.
KNA: Ihre Mutter ist in Berlin geboren und wurde kurz nach dem 9. November 1938, dem Tag der Pogrome gegen Juden und jüdische Einrichtungen, drei Jahre alt.
Lezzi: Ja. Damals durften Juden in Wohnungen nicht mehr zusammenkommen, und die Familie hat meine Mutter dann heimlich zu ihrem Geburtstag besucht, wie mir später eine ihrer Cousinen erzählt hat. 1939 kurz vor Kriegsausbruch ist meine Mutter mit Fluchthelfern nach Frankreich zu einer Tante geschickt worden. Später kam sie unbegleitet und illegal über die Grenze in die Schweiz, da war sie sieben Jahre alt. Dort ist sie dann bei einer Pfarrfamilie groß geworden.
Diese Geschichte ist mit ein Grund, warum ich als Jüdin sehr sensibel auf Antisemitismus reagiere, aber auch auf Rhetoriken, wie man über Geflüchtete spricht und mit ihnen umgeht – auch mit illegal ins Land gekommenen Geflüchteten. Auch meine Familiengeschichte ist eine Fluchtgeschichte. Und ohne das Gelingen der Flucht meiner Mutter säße ich jetzt nicht hier.