Kein Fall für den Richter

Fast zwei Stunden nimmt sich Mario Mannweiler, Chef der Staatsanwaltschaft Koblenz, Zeit, um seine Entscheidung zu begründen. Er gibt sich bei einer Pressekonferenz alle Mühe, ein Verfahren zu erklären, in dem nach fast drei Jahren Ermittlungsarbeit nicht nur 20.000 Seiten dicke Aktenberge zurückbleiben werden, sondern auch viel Unmut. Denn das Verfahren gegen den Ex-Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), wegen dessen Rolle bei der Flutkatastrophe im Ahrtal wird eingestellt. Die Schuldfrage angesichts der 135 Todesopfer im Tal wird somit nicht von einem Gericht geklärt.

„Ich weiß, dass viele sich ein Gerichtsverfahren wünschen“, erklärt der Leitende Oberstaatsanwalt. Er wisse um die Trauer im Tal, und er könne verstehen, wenn Menschen die Entscheidung nicht sofort nachvollziehen könnten. Dennoch gebe es keine andere Wahl. „Die Staatsanwaltschaft hat nicht darüber zu befinden, ob jemand im vorliegenden Fall charakterlich versagt hat“, stellt Mannweiler klar. „Für die Frage nach der Strafbarkeit spielt das keine Rolle.“

Seit sich im Ahrtal in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 die schlimmste Naturkatastrophe seit Bestehen des Bundeslandes Rheinland-Pfalz ereignete, sind viele Unzulänglichkeiten beim Krisenmanagement öffentlich geworden – auch dank eines Landtags-Untersuchungsausschusses, der die Ereignisse akribisch aufarbeitete. Dass der Kreis Ahrweiler mit dem verheerenden Unglück völlig überfordert war und die Landesregierung viel zu spät das Ausmaß der Tragödie erkannte, ist inzwischen umfassend belegt. Gegen den damaligen Landrat und dessen ehrenamtlichen Kreisfeuerwehrinspekteur wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet – im Raum stand der Verdacht der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung durch Unterlassen.

Viele der öffentlich diskutierten Kritikpunkte sieht die Staatsanwaltschaft bestätigt. Der Katastrophenschutz im Kreis war schlecht aufgestellt: Es gab keine vorsorglichen Risikoanalysen oder Evakuierungspläne, die Technische Einsatzleitung war personell unterbesetzt. Pföhler selbst fühlte sich in der Unglücksnacht gar nicht zuständig und delegierte die Leitung des Krisenstabs an einen ehrenamtlichen Feuerwehrmann. Wären die Behörden besser aufgestellt gewesen, dann wären manche der Todesopfer möglicherweise noch am Leben, lautet das Fazit der Ermittler. Für eine Anklage jedoch reicht das nicht: „Mit Wahrscheinlichkeiten werden in Deutschland keine Menschen verurteilt.“

Dass keine Personen für die Katastrophe belangt werden sollen, ist für viele Flutopfer und Hinterbliebene nur schwer erträglich. Bereits am Mittwoch hatten Anwälte, die mehrere Betroffene vertreten, vor einer Einstellung des Verfahrens gewarnt. Die ermittelnden Staatsanwälte müssten wegen Befangenheit ausgetauscht werden. Besonders ein Gutachten, dass den absoluten Ausnahmecharakter der Katastrophe bescheinigt, stößt bei der Opferseite auf Ablehnung.

Doch die Staatsanwaltschaft bleibt dabei: Die Katastrophe sei so außergewöhnlich gewesen und dynamisch verlaufen, dass die Handelnden gar keine eindeutig richtigen Entscheidungen hätten treffen können. Hätten Evakuierungspläne vorgelegen, dann hätten sie vermutlich nicht funktioniert angesichts der unvorstellbaren Geschwindigkeit, mit der die Sturzflut die Ortschaften hin zum Rhein verwüstete. Selbst der Umstand, dass Pföhler bis spät in die Nacht die Ausrufung des Katastrophenfalls hinauszögerte, habe nicht zwingend den Tod konkreter Menschen zur Folge gehabt. Niemand könne sagen, ob eine chaotische Massenevakuierung bei unmittelbar heranrollender Flutwelle vielleicht noch mehr Tote zurückgelassen hätte.

Zudem müsse auch der Kenntnisstand der Verantwortlichen berücksichtigt werden. In der Technischen Einsatzleitung habe es im Verlauf der Katastrophe gar kein korrektes Lagebild aus den Ortschaften am Oberlauf der Ahr gegeben. Die Einsatzkräfte seien so massiv gefordert gewesen, dass sie „die Übermittlung von Lagebildern schlicht aus dem Blick verloren, die waren mit Menschenrettung beschäftigt“. An diesem Umstand sei niemand Schuld. Dies gelte auch für die Tragödie in der Behinderteneinrichtung in Sinzig, wo das Wasser so schnell stieg, dass Feuerwehr und Betreuer nicht alle Menschen in sichere Obergeschosse evakuieren konnten und zwölf Bewohner ertranken. Die Ahrtalflut bleibt aus Sicht der Ermittlungsbehörden eine unvorstellbare Tragödie – ohne juristisch Schuldige.