Jedes Leben zählt

Kirchliches Rettungsschiff „Sea-Watch 4“ ausgelaufen.

Das Seenotrettungsschiff „Sea-Watch 4“ ist zu seinem ersten Einsatz im Mittelmeer aufgebrochen. Das überwiegend aus kirchlichen Mitteln finanzierte Schiff hat am vergangenen Samstag den spanischen Hafen von Burriana verlassen und ist auf dem Weg in die Such- und Rettungszone vor ­Libyen, teilte „Sea-Watch“ mit. Es sei derzeit das einzige Rettungsschiff im Mittelmeer. 

Von Jörg Trotzki (mit epd)

Was ist ein Menschenleben wert? Rund 20000 Menschen sind allein seit 2014 im Mittelmeer auf der Flucht vor Krieg, Folter, Vertreibung und Hoffnungslosigkeit ertrunken. Haben die Alten – als sie merkten, dass es zu Ende geht – ein letztes Mal Gott um Gnade angerufen? Hat eine Mutter – im Moment des Todes – das letzte Mal den Namen ihres Kindes geflüstert und um Vergebung gebeten? 

Wie groß muss die Not – auch die Gewissensnot – sein, Heimat und ­Gemeinschaft zu verlassen, um sich auf den Weg zu machen in ein un­gewisses Schicksal? Wie groß muss die Verzweiflung sein, den Tod als Risikofaktor in Kauf zu nehmen, um dem Elend zu entfliehen?

Die evangelische Kirche setzt dieser Verzweiflung etwas entgegen. Ein Schiff sollte es sein, so hat es der evangelische Kirchentag im vergangenen Jahr in Dortmund beschlossen; schon seit Langem unterstützt die evangelische Kirche die zivile Seenotrettung. So wurde im Herbst 2019 der Verein „United4Rescue“ gegründet, ein Bündnis, dem heute mehr als 550 Partner angehören, auch die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg- schlesische Oberlausitz. 

Pröpstin Christina-Maria Bammel erinnert im Gespräch an das Bild von Alan Kurdi, das Anfang September 2015 um die Welt ging. Das Bild zeigt den zweijährigen Jungen tot am Strand der türkischen Mittelmeerküste, bekleidet mit einem roten T-Shirt und blauen Hosen. Der syrische Junge hatte die Flucht vor dem Bürgerkrieg gemeinsam mit seinen Eltern nicht überlebt. 

Christina-Maria Bammel nennt es einen unfassbaren Skandal, eine Bankrotterklärung der Menschlichkeit, dass vor allem so viele Kinder auf der Flucht ertrinken. Deshalb stehe es für sie außer Frage, dass die Landeskirche – auch trotz der Kritik aus den eigenen Reihen – dem Bündnis zur Seenotrettung beigetreten ist. „Jedes einmalige Leben zählt und ruft danach, gerettet zu ­werden“, so die Pröpstin. 

Die benötigten 1,5 Millionen Euro für das Schiff waren schnell ­zusammengekommen, sagt Michael Schwickart. Er ist der stellvertretende Vorsitzende des Trägervereins „Gemeinsam Retten“. Mit dem Geld konnte im Januar dieses Jahres ein ehemaliges Forschungsschiff, die Poseidon, in Kiel gekauft und nach Spanien überführt werden. Der Umbau wurde zunächst durch die Corona-Krise gestoppt, doch jetzt ist es am vergangenen Wochenende ausgelaufen, unter ihrem neuen Namen: „Sea-Watch 4“.

Das Schiff wird hochprofessionell betrieben, zur Besatzung gehören unter anderem neun Seeleute, also Kapitän, Wachleute und weitere ­Offiziere. Hinzu kommen vier ­Mediziner, dann die Crew, die mit Schlauchbooten hinausfährt, um die Menschen in den Flüchtlingsbooten mit Wasser und Rettungswesten zu versorgen. An Bord sind aber auch ein Koch und Journalist*innen. 

Michael Schwickart betont, die Einsätze seien brutal geworden, weil viel Leid und Elend mit angesehen werden muss. Für ihn sei einer der schlimmsten Einsätze gewesen, zu sehen, wie ein Flüchtlingsboot von der libyschen Küstenwache wieder abgedrängt und zurückgebracht wurde. Im Wissen darum, dass den Menschen in den libyschen Lagern Folter, Vergewaltigung oder auch Hinrichtungen drohen, habe man schon Tränen in den Augen gehabt.

Drei Schiffe werden in Italien willkürlich festgehalten

Sorgen bereitet Schwickart aber auch die Aushöhlung unseres Rechtssystems. Wenn in Italien ­derzeit wieder drei Rettungsschiffe willkürlich festgehalten werden – ohne jegliche Rechtsgrundlage, wie Schwickart betont –, dann müssten alle in der Europäischen Union hellhörig werden. Mit dem Bündnis „United4Rescue“ bestehe die Hoffnung, die Hilfe und Unterstützung, die die zivile Seenotrettung vor allem auch in Deutschland leistet, ein Stück weit sichtbarer zu machen. 

Kurz vor dem Ablegen zum ersten Rettungseinsatz von „Sea-Watch 4“ gab der Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, den Crew-Mitgliedern einen Reisesegen mit auf den Weg. „Sie alle eint die Überzeugung, dass man Menschen nicht ertrinken lassen darf. Man muss sie retten. Dazu lauft Ihr jetzt aus“, so Bedford-Strohm in der Videobotschaft an die Crew: 

„Ihr wollt Menschenleben retten und ich möchte euch dazu die alten aaronitischen Segensworte aus der Bibel mit auf den Weg geben, die Menschen seit Jahrtausenden begleitet haben“, erklärte Bedford-Strohm. Das Auslaufen des Schiffes sei für ihn nach der Schiffstaufe in Kiel auch persönlich „ein ganz besonderer Moment“, so Bedford-Strohm. Aber auch Tausende andere Menschen seien jetzt mit dem Herzen dabei. „Sie haben das Geld dafür gespendet, dass die ,Sea Watch 4‘ überhaupt ­gekauft werden konnte.“ Er sei dankbar, dass das Engagement so vieler Menschen dazu geführt hat, dass dieses Rettungsschiff jetzt in See steche: „Europa soll sehen, dass die Politik des Wegsehens nicht mehr tatenlos hingenommen wird. Der Einsatz des Schiffes ist beides: eine humanitäre Hilfsmaßnahme, aber auch ein politisches Zeichen dafür, dass wir uns weiter einmischen werden.“

Auch Bischof Christian Stäblein begrüßte die erste Rettungsmission: „Wir dürfen niemanden ertrinken lassen.“ Er hoffe, dass möglichst viele gerettet würden. „Das Schiff wird nicht die Lösung aller politischen Fragen sein“, betonte Stäblein. Es sei konkrete Hilfe und das Zeichen dafür, dass politische Lösungen benötigt werden: „Die Situation, dass Menschen ertrinken, ist nicht hinnehmbar“, so Stäblein.

Die Videobotschaft des Ratsvorsitzenden der EKD ist online abrufbar:www.youtube.com/watch?v=7-QIBM9_9DI