Ein „gesamtdeutscher Ossi“

Charakteristisch an Wolfgang Thierse ist vor allem sein Bart. Ihn trägt er über alle Zeiten und Moden hinweg seit 1967, Mitte 20 war er damals. „Ossi-Bär“ wurde er zu Anfang seiner Politikerkarriere zuweilen genannt, doch das ist lange her. Der ehemalige Bundestagspräsident, 1943 in Breslau geboren, hat sich den Ruf eines klugen Rhetorikers erworben, der sich engagiert gegen Antisemitismus, Fremdenhass und Rechtsextremismus einsetzt – und wie kaum jemand für die Ostdeutschen spricht.

Bequem war das nicht immer für seine Landsleute: „Weil ich nicht glaube, dass man ihnen hilft, wenn man ihre Vorwürfe und ihr Jammern verstärkt“, sagte der SPD-Politiker einst dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ernst genommen und verstanden fühlten sich viele Ostdeutsche dennoch von ihm – mehr als von der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) oder Altbundespräsident Joachim Gauck. Noch heute bedankten sich Leute auf der Straße bei ihm dafür, erzählt er im Gespräch.

Der entscheidende Kristallisationspunkt in Thierses Leben war ohne Zweifel die politische Wende in der DDR 1989/90 – „das Jahr der Wunder“, wie er rückblickend sagt. Zunächst in der Bürgerbewegung „Neues Forum“ aktiv, kam Thierse im Januar 1990 zur Sozialdemokratie. Dort wurde er Vorsitzender der DDR-SPD und später, 1998, Bundestagspräsident.

Sieben Jahre, bis zur Neuwahl 2005, blieb er an der Spitze des Verfassungsorgans, anschließend war er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Parlament 2013 Vizepräsident des Bundestages. Er war ein maßgeblicher Fürsprecher des Holocaust-Mahnmals, das 2005 eröffnet wurde. In seine Amtszeit als Präsident fiel auch die CDU-Spendenaffäre. Die angebliche Aussage von Altkanzler Helmut Kohl (CDU), Thierse sei der „schlimmste Präsident seit Hermann Göring“, hat der Genosse lange nicht verschmerzt.

Manchmal hätte er auch heute noch Lust, „in die Bütt‘ zu steigen“. Aber wenn er sich dann vorstelle, Angiftungen oder Herabwürdigungen aus dem populistischen Lager ertragen zu müssen, sei er doch erleichtert, das nicht mehr machen zu müssen, bekennt der glänzende Redner.

Er selbst wägt jedes Wort sorgsam ab, ist sprachlich genau und doch mitunter erfrischend pointiert – etwa als es um den Fall „Emily“ ging. Das Gerichtsurteil über die Kündigung einer Supermarktkassiererin wegen der Unterschlagung zweier Pfandbons nannte Thierse seinerzeit „barbarisch“ und „asozial“. Dass er solche Worte nicht im Affekt benutzt, darf bei dem studierten Germanisten und Kulturwissenschaftler mit Gewissheit angenommen werden. Was sprachliche Genauigkeit angeht, habe er „einen gewissen Ehrgeiz“, bekennt er selbst.

Der Wahl-Berliner, der vor seiner politischen Karriere im DDR-Kulturministerium und an der Akademie der Wissenschaften der DDR arbeitete, weiß sein Privileg als Spitzenpolitiker zu schätzen: „Ich konnte mitmischen und für die mitzusprechen versuchen, die keine Sprache hatten oder denen niemand zugehört hat.“ Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ nannte ihn einst einen „gesamtdeutschen Ossi“ – das hat ihm gefallen.

Obwohl Thierse vor zehn Jahren aus dem Bundestag schied, hat er bis heute zahlreiche Ehrenämter. Er gehört etwa dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an und leitet den Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing. Das mache viel Arbeit, aber er lerne auch viel dabei.

Thierse nennt sich selbst einen „protestantischen Katholiken“, der sich gelegentlich auch viele „katholische Protestanten“ wünsche. Die Kirche hat nach seiner Überzeugung nur eine ökumenische Zukunft – oder keine. Ihre Aufgabe heute könnte auch sein, Räume für den schroffer gewordenen gesellschaftlichen Diskurs zu eröffnen. Diese Räume hält Thierse für bitter nötig.

Der Germanist bedauert eine Verrohung der kommunikativen Sitten. „Demokratie ist darauf angewiesen, dass wir streiten, aber auch dass wir Kompromisse und Konsense zu finden bereit sind“, mahnt Thierse. Doch die Bereitschaft, sich auf die Wirklichkeitswahrnehmung des Anderen einzulassen und darüber miteinander zu reden, habe leider erkennbar abgenommen.

Wie „Pech und Schwefel“ klebt ihm bis heute eine – wie er beteuert – ironische Bemerkung über die schwäbischen Zuwanderer in seinem Heimatkiez an, dem Prenzlauer Berg im Nordosten von Berlin. Sogar das dortige Käthe-Kollwitz-Denkmal wurde seinerzeit mit Spätzle beworfen, weil Thierse den Schwaben attestiert hatte, wegen Unordnung und Chaos in die Hauptstadt zu kommen, es dann aber nach kurzer Zeit so ordentlich haben zu wollen wie in der schwäbischen Kleinstadt. Die Wogen sind längst geglättet. Was ihn bis heute an der Geschichte betrübt: „Eine ironische Bemerkung macht viel mehr Aufsehen als meine 25 Jahre politischer Arbeit.“