Debatte um Thesen hält an

Umfrage bestärkt de Maizières Vorstoß. Kritik am Zehn-Punkte-Katalog von Kirchen, Migrantenorganisationen und aus der Politik. Integrationsforscher: Jedes Land braucht eine Leitkultur

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Berlin –Die Thesen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière zu einer deutschen Leitkultur sorgen in Politik, Kirche und Gesellschaft weiter für kontroverse Diskussionen. Der CDU-Politiker beschreibt in seinem öffentlich gemachten Zehn-Punkte-Katalog unter anderem Religion als „Kitt und nicht Keil der Gesellschaft“. Weiter heißt es darin unter anderem, Deutschland sei eine offene Gesellschaft: „Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.“

Rückhalt erfährt de Maizière mit seinem Vorstoß in der Bevölkerung. Einer aktuellen Umfrage zufolge ist jeder Zweite davon überzeugt, dass Deutschland eine Leitkultur braucht. In einer Insa-Umfrage für den „Focus“ stimmten 52,5 Prozent der 1000 Befragten dieser Aussage zu. Jeder Vierte (25,3 Prozent) sprach sich dagegen aus. Als wichtigste Elemente einer Leitkultur nannten die Befragten die deutsche Sprache, das Bekenntnis zum Grundgesetz, Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Ablehnung radikaler, der demokratischen Grundordnung widersprechender Positionen.

„Für offene Debatte wenig geeigneter Begriff“

Für Verärgerung sorgen die Thesen bei einigen Vertretern von Verbänden und Kirchen. Migrantenorganisationen kritisierten den CDU-Politiker in einem offenen Brief. Seine Thesen seien eher geeignet, „die Gesellschaft zu spalten als zusammenzuführen“, heißt es darin. Absender ist das Forum der Migrantinnen und Migranten, das sich im Paritätischen Wohlfahrtsverband zusammengefunden hat.

Der Kulturbeauftragte der Evan­gelischen Kirche in Deutschland, Johann Hinrich Claus­sen, sagte, die vom Minister benutzte Schärfe und Polarisierung sei nicht hilfreich für die Debatte. Gerade der Griff zum Wort „Leitkultur“ sei außerdem wenig geeignet, eine offene Debatte zu eröffnen. Claussen sagte, er halte von diesem Wort nichts. „Es ist nicht mit klaren Inhalten verbunden, sondern nur ein politisches Schlagwort, das den kulturellen Dominanzanspruch einer Partei formulieren soll“, kritisierte der Theologe und ergänzte: „Kultur ist ein Bereich von sich entfaltender Freiheit und sollte nicht in dieser Weise festgezurrt werden.“ Ähnliche Kritik kam vom Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann.

Für Verärgerung sorgt bei Claus­sen und Zimmermann der Beitrag de Maizières vor dem Hintergrund der „Initiative kulturelle Integra­tion“, die über Monate hinweg selbst 15 Thesen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt erarbeitet hat und am 16. Mai präsentieren will. Sie sollen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) überreicht werden. Einer der „Unterstützer der ersten Stunde“ ist der Bundesinnenminister, wie Zimmermann sagte. In der ersten Sitzung sei beschlossen worden, das Wort „Leitkultur“ nicht zu benutzen.

Inhaltlich stimme er aber durchaus mit einigen Thesen von de Maizière überein, sagte Zimmermann. Er vermisse allerdings wichtige Punkte, die in der Initiative diskutiert worden seien. So spreche de Maizière nicht von den Rechten, die der Einzelne gegenüber dem Staat habe, wie etwa der Meinungsfreiheit. Auch erwähne er nicht die Gleichheit der Geschlechter oder die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements.
An der Initiative sind den Angaben nach 28 Gruppen aus Politik und Zivilgesellschaft beteiligt. Dazu gehören auch Vertreter der Kirchen, des Koordinationsrates der Muslime, des Zentralrats der Juden sowie der Gewerkschaften.

Der evangelisch-reformierte Kirchenpräsident Martin Heimbucher aus Leer sagte, die Diskussion greife zu kurz.  Zwar gebe es bei den Minister-Thesen interessante Ansätze, doch störe ihn die binnen-deutsche Ausrichtung. Heim­bucher sprach sich für eine „europäische Kultur des Miteinanders“ aus. Entscheidend dafür sei die Frage, „wie wir mit den vom Mainstream abweichenden Minderheiten umgehen“, sagte Heimbucher. In Deutschland dürfe jeder Mensch seine Meinung offen sagen, ohne dabei um Leib und Leben fürchten zu müssen. „Dafür lohnt es sich zu kämpfen.“
Das Grundgesetz schütze dies. „Aber es genügt nicht, die Buchstaben der Verfassung zu befolgen“, betonte Heimbucher. „Menschenwürde und Gleichberechtigung müssen im Alltag gelebt werden.“ Wo diese Prinzipien verletzt würden, „müssen wir aufstehen und sagen: So reden wir nicht miteinander, so gehen wir nicht miteinander um.“

Der Essener katholische Bischof Franz-Josef Overbeck begrüßte auf Anfrage die Debatte um eine deutsche Leitkultur zwar grundsätzlich. Er betonte jedoch, sie dürfe nicht auf „Stammtischniveau“ und nicht nur im Vorfeld von Wahlen geführt werden. „Wir müssen in unserem Land die Frage besprechen, was wirklich zu unserer Identität gehört. Da ist es wichtig, dass auch die Politik dazu Stellung bezieht“, so Overbeck, der auch Sozialbischof der Deutschen Bischofskonferenz ist. Mit Schlagworten wie „Wir sind nicht Burka“ habe er dagegen Probleme, weil sie „nicht der Differenziertheit der Bedeutung der Religion für Menschen“ gerecht würden.

„Einleben in politische Kultur nicht erzwingbar“

Der niederländische Soziologe und Integrationsforscher Ruud Koopmans bezeichnete die Debatte in der „Welt“ als notwendig: Jedes Land der Erde brauche eine Leitkultur, „und die stabilen Staaten haben auch alle eine nationale Kultur“. Etwas „ganz spezifisch Deutsches“ ist aus seiner Sicht der Umgang mit der Vergangenheit: „Das historische Erbe des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, das ist deutsche Leitkultur.“ Man könne „nicht deutsch sein, ohne sich für den Holocaust zu schämen“.

Der Philosoph Jürgen Habermas dagegen hält eine Leitkultur für nur schwer mit dem Grundgesetz vereinbar. „Keine Muslima darf dazu genötigt werden, beispielsweise Herrn de Maizière die Hand zu geben“, schreibt er in der „Rheinischen Post“. Allerdings müsse die Gesellschaft von eingewanderten Staatsbürgern erwarten, „dass sie sich in die politische Kultur einleben – auch wenn sich das rechtlich nicht erzwingen lässt“.

Mit seinem Vorstoß hatte de Maizière eine breite Debatte ausgelöst. Während der Minister weitgehend Zustimmung aus der Union erhielt, kam aus der Opposition starker Gegenwind. Kritik gab es auch vonseiten des Koalitionspartners SPD. Gegner warfen ihm Wahlkampf und „Ablenkungsmanöver“ vor. epd/KNA/UK