Christine Bergmann über Aufarbeitung von Missbrauch

Immer wieder zuhören: Darauf dringt Ex-Bundesfamilienministerin Bergmann im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen. Bald scheidet sie aus der Aufarbeitungskommission für Missbrauch aus – und formuliert jetzt Forderungen.

Die frühere Bundesfamilienministerin Christine Bergmann hat nicht lange gezögert auf die Frage, ob sie Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung werden wolle. Im Jahr 2010 ging die Politik davon aus, dass das Thema schnell abgeräumt werden könne, sagte sie in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Nach acht Jahren scheidet sie zum Jahreswechsel aus der Aufarbeitungskommission für Missbrauch aus. Das Ausmaß der Fälle ist nach ihrer Einschätzung bislang aber nur teilweise erkennbar.

KNA: Frau Bergmann, eigentlich hatten Sie sich vor 13 Jahren schon lange aus der Bundespolitik verabschiedet, als die damalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) Sie 2010 fragte, ob Sie das neu geschaffene Amt einer Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung übernehmen wollen.

Bergmann: Ja, mich erreichte der Anruf damals, als ich mit meinem Mann an der Ostsee war. Ich hatte damals nicht viel Zeit zum Überlegen und habe dann recht schnell zugesagt. Mir war klar, dass jetzt dieses so lange tabuisierte Thema in der Öffentlichkeit angekommen ist und damit auch der Druck zum Handeln.

KNA: Was waren damals die ersten Schritte?

Bergmann: Wir haben schnell eine telefonische Anlaufstelle für Betroffene geschaffen, in der insgesamt rund 60 Psychotherapeuten mitgearbeitet haben. Innerhalb der ersten Monate haben wir rund 20.000 Anrufe und 3.000 Briefe und Mails bekommen. Die meisten Betroffenen haben das erste Mal über ihren Missbrauch und die Folgen bis heute gesprochen, auch sehr alte Menschen, das war sehr bewegend. Viele hatten auch schon vorher Signale gesendet, aber es wollte einfach niemand wissen.

KNA: Von welcher Zeitdauer ging die Bundesregierung damals aus?

Bergmann: Als ich in das Amt der Missbrauchsbeauftragten berufen wurde, gab es die Vorstellung: „Wir beschäftigen uns jetzt intensiv mit dem Thema, und dann ist es auch wieder gut!“ Eine völlige Fehleinschätzung. Auch 13 Jahre nach dem Bekanntwerden der ersten Fälle damals im Canisius-Kolleg in Berlin ist nur die Spitze des Eisbergs bekannt. Es liegen immer mehr Studien vor, die das Ausmaß aufzeigen, und mehr Betroffene sprechen über das Erlebte.

KNA: Nach eineinhalb Jahren hat dann Johannes-Wilhelm Rörig das Amt des Beauftragten übernommen. Sie haben sich aber weiter mit dem Thema beschäftigt und gehörten dann ab 2016 zu den ersten Mitgliedern der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Was waren Ihre wichtigsten Erfahrungen?

Bergmann: Wir müssen den Betroffenen zuhören, zuhören und noch mal zuhören: Was haben sie erlebt? Warum ist es passiert? Warum wurde ihnen nicht geholfen? Welche Hilfe hätten sie gebraucht? Und wie können Sie heute unterstützt werden? Was sind ihre Botschaften an die Gesellschaft?

KNA: Was hat Sie überrascht?

Bergmann: Das riesige Ausmaß von Missbrauch – da erging es mir wie vielen anderen auch. Und dann zugleich die große Abwehr von vielen Seiten: Missbrauch und die Aufarbeitung – ein sehr ungemütliches Thema, weil es auch darum geht, sich mit dem eigenen Versagen zu beschäftigen, Kinder nicht ausreichend geschützt zu haben. Das Risiko für ein Kind, Gewalt zu erleben, ist einfach riesengroß.

KNA: In der Aufarbeitungskommission haben die Mitglieder sich schnell nicht nur um Missbrauch in den Kirchen, sondern auch um andere Bereiche gekümmert – etwa im Sport, in der Schule, aber auch in Familien und dazu auch öffentliche Hearings veranstaltet.

Bergmann: Ja, der Auftrag der Kommission bezieht sich auf alle Institutionen und die Familie. Schnell war klar, dass Täter immer nach einem ähnlichen Muster vorgehen: Die Opfer standen in einem Abhängigkeitsverhältnis, und die Täter missbrauchten ihre Macht und wurden in der Regel von den Institutionen oder Vereinen geschützt. Täter- und Institutionenschutz stand vor Kinderschutz, und so ist es in vielen Bereichen leider immer noch.

KNA: Sie haben sich unter anderem mit dem Missbrauch in der DDR beschäftigt.

Bergmann: Ich habe ja selbst den Großteil meines Lebens in der DDR verbracht, auch deshalb war und ist mir die Aufarbeitung ein großes Anliegen. Die sexuelle Gewalt, die es in der DDR ebenso gab, wurde total tabuisiert. Es gab und gibt noch immer sehr viele Vorurteile, wenn ich etwa an den ehemaligen Jugendwerkhof Torgau denke. Es heißt noch immer, dass dort kriminelle Jugendliche gewesen seien – und die ergriffenen Gewaltmaßnahmen schon berechtigt gewesen seien. Es gibt dort noch viel an Aufarbeitung zu tun, und ich bin froh, dass das Thema auch nach meinem Weggang weiter im Fokus bleibt, denn viele Betroffene warten noch auf Anerkennung des Unrechts.

KNA: Ein anderes Thema, das Ihnen als Protestantin wichtig war, ist die Aufarbeitung von Missbrauch in der evangelischen Kirche.

Bergmann: Da segelte die evangelische Kirche sicher lange im Windschatten der katholischen Kirche. Vor fünf Jahren führte die Kommission ein öffentliches Hearing zu sexuellem Kindesmissbrauch in den beiden Kirchen durch. Es hat lange gedauert, bis vergangene Woche eine Gemeinsamen Erklärung der evangelischen Kirche und der Diakonie zur strukturellen Aufarbeitung unterzeichnet wurde, drei Jahre später, als es die katholische Kirche tat.

Dafür geht die Erklärung der evangelischen Kirche eindeutig weiter. Sie schafft die Basis für die Einführung von Standards und Kriterien für die Aufarbeitung in den Landeskirchen und den Landesverbänden der Diakonie. Es wird unabhängige Regionale Aufarbeitungskommissionen geben, an die sich Betroffene wenden können. Zudem hat die evangelische Kirche durch ein im vergangenen Jahr eingesetztes Forum die Beteiligung der Betroffenen wesentlich verbessert.

KNA: Wie blicken Sie auf die Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche, die im Januar vorgestellt werden soll?

Bergmann: Ich bin da sehr gespannt. Ich gehe davon aus, dass wir noch mehr über die Bedingungen erfahren, die sexuelle Gewalt in der evangelischen Kirche ermöglichen und weit mehr als die bislang etwa 900 bekannten Fälle genannt werden. Aber auch diese Studie kann nur ein weiterer Schritt zur Aufarbeitung sein, viele weitere müssen folgen.

KNA: Was erhoffen Sie sich für die weitere Aufarbeitung von Missbrauchsfällen?

Bergmann: Ich möchte natürlich, dass die bislang eingesetzten Aufarbeitungskommissionen, wie in den Kirchen und im Sport, Unabhängigkeit gewährleisten können und Betroffenenbeteiligung ermöglichen. Betroffene von sexueller Gewalt müssen mehr Unterstützung bekommen bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte und Anerkennung des Unrechts.

Auch in der Politik gibt es Handlungsbedarf. Betroffene haben ein Recht auf Aufarbeitung. Akteneinsicht hat hier eine große Bedeutung und muss für Betroffene klarer geregelt werden. Zudem hoffe und erwarte ich eine stärkere gesellschaftliche Sensibilisierung für das Thema. Wenn Kinder Gewalt erfahren, prägt es sie oft ein Leben lang. Sie haben ein Recht auf ein Aufwachsen ohne Gewalt. Wir tragen alle Verantwortung, dass Mädchen und Jungen keine Opfer von Übergriffen werden.