Aufruf zum Advent: Fürchtet euch nicht, singt!

Kirchenmusiker Martin Blaschke aus Berlin ermuntert alle zum Mitsingen in der Adventszeit, zu Hause und im Gottesdienst. Mitsingen lohnt immer – auch wenn es schief wird.

Singen im Chor lohnt sich
Singen im Chor lohnt sichImago/ Half Point Images

Ich habe meinen Opa als einen dominanten, unruhigen Menschen in Erinnerung, dessen innere Kämpfe sich auch auf sein direktes Umfeld übertragen konnten. Was die Lautstärke betraf, war er am Esstisch – sagen wir es so – immer am besten zu hören. Gesprochen hat er viel, aber gesungen? Niemals. Oder doch? Stopp! Natürlich. Es gab ihn: Diesen wunderbaren, unvergesslichen, Moment: Er wollte irgendetwas karikieren, stand am Fenster, bildete mit seinen Armen einen Kreis, so als würde er eine unsichtbare Person umarmen, und fing wie aus dem Nichts an zu tanzen. Ja, er wippte hin und her und sang. Tatsächlich, er sang.

Keinen Text, aber eine Melodie. Mit geschlossenen Augen und Lippen, die leicht zu vibrieren schienen. Seine Art, sich zu bewegen – im Walzerschritt – machte auf mich den Eindruck, als täte er dies nicht zum ersten Mal. Fast routiniert. Noch nie hatte ich ihn so gesehen. In sich gekehrt und zufrieden mit der Welt. Ich glaube, diese Art des Zu-sich-Findens gibt es nur in der Musik. Der Klang des gemeinsamen Singens, Klatschens, Rappens, Schunkelns und Schweigens. Das alles ist Musik. Musik ist das „Ich liebe dich“-Sagen zu Gott. Das Sich-trauen, Sich-fallen-lassen. Anhalten und Neustart der Zeit. Das Gefühl, dem Körper zu erlauben, sich frei zu bewegen.

Die Stimme zum Singen: Das von Gott gegebene Instrument

Einmal im Jahr, so scheint es, gibt es ein kleines Zeitfenster, in dem sich auch „Ungeübte“ trauen, ihr von Gott gegebenes Instrument zu benutzen: zu Weihnachten. An Heiligabend. Gloooooo-ria in excelsis deo. Wer diese Melodie einmal gehört hat, kann sofort mitsingen. Diese Erfahrung mache ich jedes Jahr aufs Neue, in jedem Weihnachtsgottesdienst.

Genauso verhält es sich mit den ersten Takten aus Händels „Rejoice-Arie“: subtile und wunderbare Einsinge-Übung. Oder mit „We will rock you“ von Queen. Oder mit „Komet“ von Apache 207 und Udo Lindenberg. Wieso nur haben dann so viele Menschen regelrechte Panik davor, zu singen? Es ist so leicht zu schimpfen, zu hupen, zu keifen und zu lästern. Aber vor dem Singen, der Form, die uns am tiefsten mit Gott und uns selbst verbindet, schrecken wir so oft zurück. Warum nur?

Von vielen älteren Gemeindegliedern höre ich immer wieder: Ich kann nicht singen, auf keinen Fall. „Im Unterricht wurde ich als Brummer in die Ecke gestellt und so verstummte ich.“ Damit war der Zug abgefahren. Wie schrecklich. Welche Pädagogik haben Lehrende damals nur verfolgt, so über die Stimme der Kinder zu urteilen?

Auch im Chor fühlen sich nicht alle sicher

Und jetzt? Auch in meinem Chor schrecken teils Leute vor ihrer eigenen Stimme zurück, weil sie sie nicht für gut genug befinden. Gut genug wofür? Sich seiner Stimme im wahrsten Sinne zu bemächtigen? Natürlich, bitte tut das. Weil es nichts Schöneres gibt, als zu singen. Und das nicht nur zu Weihnachten. Sondern immer. Wer jetzt sofort damit beginnen möchte, kann das tun und zu unserem offenen Adventsliedersingen am Sonntag, Zweiter Advent, um 17 Uhr in die Dorfkirche Lübars in Berlin kommen.

Wir singen alle. Falsch, laut, schief, schön, hoch, tief. Wenn das Herz sich öffnet, spielen diese Kategorien ohnehin keine Rolle mehr. Deshalb: Fürchtet euch nicht, singt! Zum Schluss noch einmal mein Opa: Kurz bevor er zu Gott ging, und ich ihn im Krankenhaus besuchte, war er wieder in dieser leichten, fast beschwingten Stimmung. Zu einer Krankenschwester, die in diesem Moment nicht sehr aufnahmefähig wirkte, sagte er plötzlich, wie aus – wortwörtlich – heiterem Himmel: Das ist mein Enkel, er studiert Kirchenmusik! Noch nie hatte ich das vorher von ihm gehört. Danke!

Die menschliche Stimme ist 2025 das Instrument des Jahres. Ob tönen, flüstern, sprechen oder singen – die Stimme ist ein vielseitiges Instrument, das Menschen auf der ganzen Welt miteinander verbindet. Seit 2008 küren die 14 Landesmusikräte in Deutschland jedes Jahr ein Instrument, das für ein Jahr im Fokus der Öffentlichkeit stehen soll. 2024 ist es die Tuba.

Martin Blaschke ist Kirchenmusiker der Kirchengemeinde Lübars in Berlin.