Alles hat seine Zeit

Weihnachtsfeier mit Kollegen, Glühweintrinken auf dem Markt, Geschenke besorgen, Konzerte, Adventsbasare, Plätzchenbacken, die Wohnung Instagram-tauglich dekorieren – für viele Menschen ist die Vorweihnachtszeit voller Hektik. Und laut der letztjährigen Weihnachtsstudie der Universität der Bundeswehr München empfinden 27 Prozent der Frauen und 20 Prozent der Männer auch Weihnachten als stressig.

Jonas Geißler, Zeitforscher aus München und Mitautor der Bücher „Alles eine Frage der Zeit“ und „Time is honey“, sieht einen Grund dafür in dem, was er „Multioptionsgesellschaft“ nennt: „Wir haben heute mehr Wahlmöglichkeiten, wie wir unsere Zeit verbringen, als jede Generation vor uns“, sagt er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das sei eine große Freiheit. Die empfänden Menschen zunehmend aber auch als Last, weil sie ständig Entscheidungen treffen müssten. In der Vorweihnachtszeit stresse das viele besonders, weil der Advent zeitlich begrenzt sei: „Einerseits soll es eine Zeit der Besinnung und der Vorfreude sein, andererseits möchte man nichts verpassen – egal ob Weihnachtsfeier, Kirchenkonzert oder Christkindlmarkt.“

Ulrich Hoffmann, Präsident des Familienbundes der Katholiken und Mitglied im beratenden Vorstand der „Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik“, beobachtet einen wachsenden Druck zur Optimierung – nicht nur rund um Weihnachten. Man möchte die Zeit optimal nutzen und vieles parallel erledigen. Smartphones, Tablets oder auch die Möglichkeit von Homeoffice erleichterten viele Dinge, führten aber auch dazu, dass Berufliches und Privates nicht mehr klar getrennt seien. „Uns gehen dadurch die Zeitrhythmen verloren“, sagt Hoffmann dem epd. Einen Gegenentwurf sieht der Theologe im christlichen Glauben: „Ich darf gewiss sein, dass jemand die Zeit in seinen Händen hält, und das hineinlegt, was sein soll.“ Das schenke Gelassenheit.

Der Advent sei ursprünglich eine Zeit des Fastens und der Vorbereitung auf Weihnachten gewesen, ergänzt er. Inzwischen sei er für viele Menschen ein vorgezogenes und ausgedehntes Weihnachtsfest. Das zeige sich auch daran, dass etwa der Weihnachtsbaum in Privathaushalten oft schon im Advent aufgestellt werde. Hoffmann rät dazu, die Adventszeit wieder als das zu entdecken, was sie ursprünglich war – eine Zeit des Wartens und der Vorfreude. Viele Menschen hätten es verlernt, zu warten. Sie hielten Stille nicht aus. Das sei allerdings kein spezielles Phänomen der Vorweihnachtszeit, sondern habe fast alle Bereiche des Lebens erfasst.

Für Ralf Albrecht, evangelischer Prälat in Heilbronn, sollte im Advent für beides Zeit sein – für Vorbereitungen, Einkäufe und gemeinsames Backen, aber auch für Momente der Einkehr und der Stille. Letzteres sei ihm persönlich besonders wichtig: „Der Advent ist und bleibt eine Zeit des Verzichts und des Wartens, eine Zeit der Konzentration auf das Wesentliche“, sagt er. Er spare in dieser Zeit bewusst Süßes und Alkohol aus. Der Adventskranz sei ihm wichtiger als der Adventskalender, denn das mit jeder Kerze heller werdende Licht symbolisiere das Kommen Gottes in diese Welt, das zu Weihnachten gefeiert werde.

Auch Zeitforscher Jonas Geißler rät zu bewussten Unterbrechungen im Advent – und verweist ebenfalls auf die Bibel: „Dort heißt es: Alles hat seine Zeit.“ Das gelte auch für Aktivitäts- und Ruhephasen. „Die wesentlichen Dinge des Lebens lassen sich übrigens gar nicht beliebig beschleunigen: Vertrauen, tragfähige Beziehungen, Liebe oder Genuss etwa.“ Wer im Advent hier und da Verzicht übe und zur Ruhe komme, der könne das Christfest dann umso mehr genießen, empfinde die Weihnachtsfreude intensiver, ist sich Geißler sicher. Auch einen Geschenke-Tipp für Weihnachten hat der Experte: „Schenken Sie Zeit anstatt materieller Dinge. Einen Spaziergang, ein Essen oder einen Kinobesuch. Denn Zeit mit der Familie und mit Freunden ist echte quality-time“. (00/3778/28.11.2024)