Appelle zum Schutz von Demokratie und Diskurs

Aufrufe zu Gemeinsinn und Gespräch am Tag der Deutschen Einheit: „Die Demokratie lebt auf Dauer nur, wenn wir alle miteinander im Gespräch bleiben“, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, am Dienstag in Hamburg. Niemand komme ohne Kompromisse aus.

Zuvor hatte die evangelische Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck, Kirsten Fehrs, in einem ökumenischen Gottesdienst im Hamburger Michel gesagt, das Land sei bunter und vielfältiger, aber auch älter und ängstlicher geworden, der Ton rauer. „Gerade deswegen brauchen wir gemeinsame Bilder und Erzählungen, eine gemeinsame Sprache, die uns verbindet.“ Das gehe nicht ohne Vertrauen in die guten Kräfte und Absichten der anderen, sagte die stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Harbarth nannte beim anschließenden Festakt in der Elbphilharmonie das vor 75 Jahren erarbeitete Grundgesetz einen „Leuchtturm der Freiheit und der Demokratie“. „Doch auch die beste Verfassung ist nur so gut wie das, was Menschen aus ihr machen“, sagte der Präsident des höchsten deutschen Gerichts. In Deutschland sei vieles gut, einiges exzellent, „aber manches kann und muss verbessert werden, um auch in Zukunft zu bestehen“. Der Staat müsse „auf allen Ebenen besser, schneller, vor allem lösungsorientierter werden“.

Harbarth mahnte darüber hinaus, diskursfähig und diskursbereit zu bleiben. „Wir sind auch heute kein gespaltenes Land, aber wir sind auseinandergerückt“, sagte der Jurist und sprach von einem „Klimawandel auch im Inneren unserer Gesellschaft“.

Mit dem Tag der Deutschen Einheit wird die Wiedervereinigung der mehr als 40 Jahre lang getrennten beiden deutschen Staaten gefeiert. Sie wurde am 3. Oktober 1990 mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 vollzogen. Hamburg hat derzeit den Vorsitz im Bundesrat inne und richtete daher in diesem Jahr die Feierlichkeiten zum 3. Oktober aus.

Der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sagte beim Festakt, nicht Populismus und Polarisierung, sondern Gemeinsinn und Kooperation seien das Gebot der Stunde. „Dafür tragen wir alle Verantwortung. Jeder und jede Einzelne sollte sich fragen, ob sie oder er dazu einen Beitrag leisten kann“, fügte er hinzu.

Tschentscher sagte: „Auch wenn das Zusammenwachsen in mancher Hinsicht noch andauert, ist die Wiedervereinigung von Ost und West und die damit verbundene Aufbauarbeit bereits in einer historischen Dimension geglückt.“ Das gebe Anlass für Optimismus, auch die großen Aufgaben der heutigen Zeit zu bewältigen. Tschentscher nannte den Klimaschutz, den Umgang mit den weltweiten Flüchtlingsbewegungen und die Veränderungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. „Mit großer Geschlossenheit stehen wir gemeinsam mit unseren internationalen Partnern an der Seite der Ukraine in ihrem Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit“, sagte der SPD-Politiker unter Applaus der geladenen Gäste.

Gerichtspräsident Harbarth sagte mit Verweis auf die Überwindung der deutschen Teilung: „Aber auch heute leben wir nicht im Paradies, sondern in einer Gegenwart mit Problemen und Herausforderungen, vielleicht in einer selten dagewesenen Verdichtung.“ Er nannte unter anderem die „Rückkehr des Krieges nach Europa“, den Klimawandel, Migration, Bedrohungen der biologischen Vielfalt, die „Verrohung des öffentlichen Diskurses“ und „Rechtsstaatskrisen in Teilen der Europäischen Union“.

Der katholische Hamburger Erzbischof Stefan Heße hatte zuvor im Gottesdienst im Michel für Europa „eine menschenwürdige und solidarische Flüchtlingspolitik“ gefordert. „Wir alle müssen um einen besseren Flüchtlingsschutz ringen. Platte Antworten verbieten sich an der Stelle“, sagte der Hamburger Bischof.

Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan beklagte unterdessen in Berlin die Abwendung eines Teils der Bürgerinnen und Bürger von der Demokratie. „Unsere modernen Demokratien starten theoretisch gut, aber sie verlieren praktisch durch das empirische Spiel ungleicher Kräfte inzwischen fast überall an Unterstützung“, sagte sie in einem Festgottesdienst in einer Kanzelrede im Berliner Dom.