40 Jahre Kirchenasyl: Es begann in Berlin mit einem Todessprung

Mit einer Gedenkveranstaltung am 30. August erinnert der Verein „Asyl in der Kirche“ an den Tod von Cemal Kemal Altun im Jahre 1983. Das tragische Ereignis führte zum ersten Kirchenasyl Deutschlands.

Einladung des Vereins "Asyl in der Kirche"
Einladung des Vereins "Asyl in der Kirche"Asyl in der Kirche

Aus Angst vor der Abschiebung in die Türkei stürzte sich Cemal Kemal Altun am 30. August 1983 aus dem offenen Fenster des Berliner Verwaltungsgerichts in der Hardenbergstraße in den Tod. Dort wurde über seine Anerkennung als politischer Flüchtling verhandelt. Am Mittwoch, dem 30. August 2023, erinnert der Verein „Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg“ ab 10 Uhr mit einer Gedenkveranstaltung am Denkmal für Cemal Kemal Altun in der Hardenbergstraße 20 an seinen 40. Todestag.

Ausschnitt Gedenkstele Cemal Kemal Altun
Ausschnitt Gedenkstele Cemal Kemal AltunGeorg Slickers

Der tragische Tod des damals 23-jährigen Türken war 1983 für viele Menschen ein Wendepunkt in der Wahrnehmung der Asylrechtspraxis. Ein Trauerzug von mehreren Tausend Menschen bewegte sich seinerzeit zum Friedhof der Heilig-Kreuz-Gemeinde. Sie hatte sich – wie viele andere auch – für Cemal Kemal Altun eingesetzt.

Erstes Kirchenasyl in Berlin-Kreuzberg

Dieses Engagement führte einige Wochen später in derselben Gemeinde zum ersten Kirchenasyl für eine von Abschiebung bedrohte palästinensische Familie. Der damalige CDU-Senat wollte die Palästinenser in das Bürgerkriegsland Libanon abschieben. „Das erste Kirchenasyl ist nicht geplant gewesen. Es wurde unvorbereitet von außen an die Gemeinde herangetragen“, erinnert sich Jürgen Quandt, damals Pfarrer der Heilig-Kreuz-Gemeinde, heute im Ruhestand. Mit Recht nennt man ihn den „Urvater des Kirchenasyls in Deutschland“. Was hat ihm 1983 Mut gemacht, diese Entscheidung zu treffen? „Die evangeliumsgemäße Antwort auf diese Frage muss wohl lauten: Gottvertrauen“, sagt Quandt. „Aber natürlich gab es Voraussetzungen für eine Entscheidung mit solcher Tragweite. Ein entscheidendes Ereignis wenige Wochen vor dem ersten Kirchenasyl war der tragische Tod von Cemal Kemal Altun.“ Nach wenigen Wochen endete das erste Kirchenasyl in der Heilig-Kreuz-Gemeinde erfolgreich; die Menschen konnten in ihre Wohnungen in Berlin zurückkehren. Die Ereignisse vor 40 Jahren, so Quandt, hätten das Selbstverständnis der Kirche als Kirche für Geflüchtete bis heute maßgeblich beeinflusst.

Kirchenasyl immer wieder bedroht

Juristisch ist ein Kirchenasyl eine Grauzone. „Kirchenasyl ist, in Erinnerung an ein biblisches Recht auf Schutz vor Verfolgung im alten Israel und in der alten Kirche, vor 40 Jahren als Folge staatlichen Versagens beim Flüchtlingsschutz in unserem Land entstanden“, sagt Jürgen Quandt.

Jürgen Quandt
Jürgen QuandtIMAGO / Raimund Müller

Es wird immer wieder versucht, die Beteiligten zu kriminalisieren. In ganz seltenen Fällen wird ein Kirchenasyl auch durch die Polizei gebrochen: Im Juli wurde eine kurdische Familie aus dem Kirchenasyl in Nordrhein-Westfalen geholt und in Abschiebehaft gebracht. Nach Protesten wurde die Abschiebung abgebrochen.

In Brandenburg wurde 2003 in Schwante ein Kirchenasyl gebrochen. Die Polizei wollte einen Vietnamesen mit seinem Sohn abholen, traf sie jedoch zufällig nicht an. Der Fall wurde bundesweit in den Medien aufgegriffen, sodass es keinen zweiten Abschiebeversuch gab. In Berlin gab es in den 1980er und 1990er Jahren mehrere Strafverfahren gegen Pfarrer, die Kirchenasyl anboten. Die meisten wurden eingestellt. Jürgen Quandt selbst musste einmal eine Geldstrafe zahlen, weil er an einer Sitzblockade gegen die Abschiebung von Tamilen teilnahm. „Kirchenasyl ist eine gewaltlose und öffentliche Aktion, durch die ein Aufschub einer Leib und Leben gefährdenden Abschiebung erreicht werden soll“, sagt Quandt. „Ziel ist die Erlangung eines legalen Aufenthaltsstatus` der betroffenen Personen.“ Laut dem Verein „Asyl in der Kirche“ sind 98 Prozent der Kirchenasyle erfolgreich.

„Asyl in der Kirche“: 2022 bundesweit 1 119 Kirchenasyle

Gut 90 Prozent betreffen allerdings derzeit sogenannte Dublinfälle, also Menschen, denen eine Rückschiebung in ein anderes EU-Land droht. Hier dient das Kirchenasyl lediglich dazu, Zeit zu überbrücken. Denn die Behörden haben meist nur sechs, in Ausnahmefällen 18 Monate Zeit, um die Menschen in den anderen EU-Staat zurückzuschicken. Eine Gesetzesänderung, die auf EU-Ebene derzeit diskutiert wird, könnte das bald schwieriger machen. Laut „Asyl in der Kirche“ gab es 2022 bundesweit 1 119 Kirchenasyle für insgesamt 1 783 Personen. 859 davon haben evangelische Gemeinden gewährt, die anderen katholische oder freikirchliche Gemeinden oder Klöster.

„Dass Kirchenasyl bis heute praktiziert wird, macht einerseits deutlich, dass sich in den vergangenen vier Jahrzehnten nichts grundlegend an einer auf Abschreckung setzenden Asylrechtspraxis geändert hat“, sagt Pfarrer Jürgen Quandt. Aber andererseits sei der Widerstand dagegen durch zivilgesellschaftliches Engagement in den Kirchen weiterhin ungebrochen und stark. Und das bleibe hoffentlich auch weiterhin so.

Marina Mai ist freie Autorin