Was Ernst Troeltsch der Kirche heute sagen würde

Vor gut 100 Jahren ist Ernst Troeltsch gestorben – ein Theologe, der in Deutschland und den USA begeisterte. Heute ist er wieder hoch aktuell, findet der Greifswalder Theologe Tobias Braune-Krickau.

Ernst Troeltsch war als Politiker und Theologie-Professor zu Zeiten der Weimarer Republik aktiv
Ernst Troeltsch war als Politiker und Theologie-Professor zu Zeiten der Weimarer Republik aktivepd-Bild/ akg-images GmbH

Herr Professor Braune-Krickau, kaum noch jemand kennt Ernst Troeltsch heute. Leider, sagen Sie. Warum?
Braune-Krickau: Erstmal muss man sich klar machen, warum Troeltsch eigentlich in Vergessenheit geraten ist: weil er in der aufgeheizten Stimmung der Weimarer Republik zu den wenigen Demokraten zählte und dem Kompromiss etwas abgewinnen konnte, dem vermittelnden Denken und Handeln. Viele anderen haben Parolen gerufen und versucht, die Massen darunter zu vereinen. Troeltsch hat geahnt, wohin das führen könnte. Schon 1923 hat er gewarnt: Wenn es uns nicht gelingt, das Bürgertum für die Demokratie zu gewinnen, werden wir in zehn Jahren eine Diktatur der Faschisten erleben. 1923! Einer der Gründe, warum Troeltsch heute noch aktuell ist, ist eben der: dass er an das hohe Gut von Kompromissen erinnert – in der Politik, in der Kirche und auch im theologischen Denken.

Heute fehlt es uns an Kompromiss-Kompetenz…
Ja. Die leisen Positionen, die auf Ausgleich und Abwägung bedacht sind, werden bisweilen übertönt von Parolen, Zuspitzungen, Empörung. Es geht eher in Richtung Lagerbildung, weniger in Richtung Ausgleich. Von Troeltsch kann man lernen, dass Dinge, die scheinbar widersprüchlich sind, sich oft gegenseitig bedingen. Zum Beispiel ist Freiheit für ihn ein hoher Wert. Auf Dauer heißt Freiheit aber nicht, dass jeder macht, was er will, und sich von der Gesellschaft löst. Eine Freiheit, die Bestand hat, braucht gute Institutionen, die die Freiheit erst ermöglichen!

Professor Tobias Braune-Krickau sprach in Greifwald vor einem Laienpublikum über Troeltsch
Professor Tobias Braune-Krickau sprach in Greifwald vor einem Laienpublikum über TroeltschSybille Marx

Was könnte speziell die evangelische Kirche von Troeltsch lernen?
Die Kirche könnte eine dieser Institutionen sein, in denen Freiheit und Ausgleich praktisch gelernt und gefördert werden. Auch Troeltsch‘ Beschreibung der drei christlichen Sozialformen finde ich sehr nützlich. Für ihn sind alle drei in den Anfängen des Christentums angelegt: die Form der Kirche, also die Organisation mit ihren Regeln, Traditionen, Hierarchien und so weiter. Daneben gibt es Reformbewegungen, die das Christentum erneuern wollen, die die Kirche kritisieren und für den Glauben aufs Ganze gehen. Als dritten Strang macht er die Mystik aus. Die Mystiker wollen Gott unmittelbar erfahren, erleben, losgelöst von institutionellen Bindungen. Lange Zeit waren das nur Einzelne – nach Troeltsch wird die Mystik in der Moderne aber mehr und mehr zur Normalform von Religiosität. Sie steht bei ihm für die individuelle Spiritualität unserer Tage. Und die Pointe bei ­Troeltsch ist: Die Zukunft der Kirche wird davon abhängen, wie gut sie es schafft, diese drei Stränge zusammen zu halten, obwohl sie auseinanderstreben: die Tradition, den Reformimpuls und individuelle Religiosität.

Was glauben Sie, würde Troeltsch der Kirche heute raten? Zumindest im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern (MV) scheint die Organisation mit ihren bisherigen Strukturen am Ende zu sein.
Also, erstmal finde ich interessant, dass es auch hier alle drei Stränge gibt. Als ich vor drei Jahren an die Uni Greifswald gekommen bin, kannte ich natürlich die Säkularisierungserzählungen über den Osten. Aber mir scheint, dass das Gemeindeleben hier in der Stadt doch sehr lebendig ist, dass die Diakonie in MV stark ist, dass evangelische Kitas und Schulen viel Zulauf haben. Soziales, Bildung und Kultur sind Felder, in denen mir das Christentum – trotz aller Säkularisierungstendenzen – sehr vital erscheint. Und es gibt auch hier im Sinne des mystischen Strangs viele Menschen, die pilgern, allein in offene Kirchen gehen oder auf anderen Wegen nach Spiritualität suchen. Das Problem der Organisation Kirche ist, dass sich das alles nicht in Mitgliedszahlen und Finanzen abbildet. In Zukunft wird es also auch darum gehen, neue Finanzierungsquellen zu erschließen – und den Anschluss an die gesellschaftlichen Felder von Diakonie, Bildung und Kultur zu halten.

Das geschieht aber auch schon. Manche Gemeinden, die Land besitzen – und das sind in MV nicht wenige – generieren Einnahmen über Windkraft- oder Solaranlagen oder verpachten Land an einen diakonischen Träger, der mit staatlicher Refinanzierung eine evangelische Kita betreibt. Wo es gelingt, sich in der Gesellschaft so zu verzahnen, da ist Kirche auf einem guten Weg.

Glauben Sie, dass die Kirche, dass das Christentum in 100 Jahren hier noch existiert? In manchen Gemeinden herrscht eher Untergangsstimmung.
Ja, wir haben im Moment überall in Deutschland apokalyptische Stimmung: das Klima, die Kirche, die Wirtschaft… ich finde, als Christen und Bürger sollten wir uns dieser Stimmung aber nicht hingeben. Denn sie verstellt den realistischen Blick auf das, was noch zu tun ist und das, was schon gelingt. Auf die Kirche gemünzt: Es gibt natürlich viel zu tun, aber auch so viele tolle Pastorinnen und Pastoren, so viele tolle Gemeinden und Projekte, darauf kann man stolz sein! Zudem expandiert das Christentum weltweit. Nicht bei uns, aber warum soll sich das nicht auch hier wieder ändern? Nach Troeltsch kann man nie wissen, was in 20 oder auch 100 Jahren sein wird, weil die Zukunft nicht vorgezeichnet ist, weder zum Guten noch zum Schlechten. Und wir gestalten sie mit.