Verratene Völker – eine Analyse zum Nahostkonflikt

Die Vereinten Nationen propagieren die Zweistaatenlösung wie ein Mantra. Doch daran haben weder Palästinenser noch die israelische Regierung ein Interesse. Eine Analyse von Johanna Haberer.

Blick über den Tempelberg mit der Klagemauer
Blick über den Tempelberg mit der KlagemauerImago / Photothek

Über den Gaza-Krieg zu schreiben beginnt schon mit einem Balanceakt: Wie nennt man diesen Landstrich zwischen Ägypten, dem Libanon, Jordanien und Syrien? Israel? Palästina? Westjordanland? Juda und Samaria? Besetzte Gebiete?

Wer in einer arabischen Airline etwa von Katar nach Europa fliegt, wird auf den üblichen elektronischen Bildschirm-Landkarten, auf denen der Passagier seine Flugroute mitverfolgen kann, keinen Staat Israel finden. Wer sich mit jüdischen Siedlern im Westjordanland die Landkarte ansieht, wird zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan allein den Staat Israel finden und kein Gebiet, das den Palästinensern zusteht.

Gottgewolltes Wohnrecht auf heiligem Boden

Auf der Stadtmauer von Jerusalem werden die unterschiedlichen Besatzungsphasen des Landstrichs seit der biblischen „Landnahme“ des Josua erzählt und damit das viel-tausendjährige Anrecht des Volkes Israel auf diesen Boden untermauert. Ähnlich liest sich die Geschichte Israels in der neueröffneten großartig inszenierten Ausstellung im Davidsturm zu Jerusalem.

Das Recht der Juden zwischen Mittelmeer und Jordan zu leben, wird heute in ihren nationalistischen Kreisen mit Texten aus dem Ersten Testament bzw. der Thora begründet – weniger mit dem Zionismus des 19. Jahrhunderts und der Kibbuz-Bewegung und auch erst in zweiter Linie mit dem Holocaust. Gottgewolltes Wohnrecht auf diesem heiligen Boden – in dem Bewusstsein werden heute in Israel seit Jahrzehnten jüdische Kinder und israelische Soldaten erzogen: Wir sind seit dreitausend Jahren hier zuhause!

Warum die Palästinenser Schlüssel aufbewahren

Rabbiner Zvi Jehuda Kook, einer der wichtigsten geistigen Väter der religiösen Siedlerbewegung schreibt: „Dieses ganze Land ist unser, absolut. Es ist nicht auf andere zu übertragen, selbst nicht in Teilen. Damit ist ein für allemal klar, dass es keine „arabischen Gebiete“ gibt, sondern einzig und allein die Erde des Landes Israel, das ewige Erbe unserer Vorväter. Dies ist eine Vorgabe göttlicher Politik, die keine niedere Politik durchkreuzen kann.“

Und auf der anderen Seite – in der anderen Wahrnehmungswelt, jener der Palästinenser? Da werden Schlüssel aufbewahrt, bereits über mehrere Generationen. Die Schlüssel zu den Häusern, aus denen arabische Familien in den verschiedenen Kriegen und Intifadas zwischen 1948 und 2017 vertrieben wurden, (doch auch das ist die Wahrheit: jeden dieser Kriege und Aufstände haben arabische Staaten und Bürger angefangen). Die Hausschlüssel werden seit Generationen von den Eltern an die Kinder weitervererbt, als bitteres Vermächtnis.

Unserer Autorin Johanna Haberer ist Theologin und Journalistin
Unserer Autorin Johanna Haberer ist Theologin und Journalistinepd-bild

Auf der Ebene der Vereinten Nationen wird seit Jahren wie ein Mantra die Zweistaatenlösung als Lösung aller Probleme vorgetragen. Allerdings ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass viele Palästinenser keinerlei Interesse an einer endgültigen staatlichen Fixierung der Grenzen haben, auch weil sie die Hoffnung nicht aufgeben, ganz und für immer in jene Häuser zurückzukehren, die ihre Familien vor Jahrzehnten geräumt haben.

Umgekehrt zeigte auch die erzkonservative Regierung des jüdischen Staates Israel kein Interesse an einer Zweistaatenlösung. Bereits seit vielen Jahren, aber verstärkt unter dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, werden die illegalen Landübernahmen der jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten von der israelischen Regierung nicht nur geduldet, sondern aktiv unterstützt – sei es im Westjordanland oder auf den Golanhöhen.

Israel verhindert Zweistaatenlösung

Nach unterschiedlichen Schätzungen leben heute etwa eine halbe Million sogenannter Siedler in streng bewachten jüdischen Niederlassungen auf palästinensischem Gebiet. Neue Straßen und elektrische Leitungen führen in diese illegalen Städte und Dörfer, während in den benachbarten palästinensischen Ortschaften häufig der Strom ausfällt oder das Wasser wegbleibt.

Die Regierung Netanjahu hat seit Jahrzehnten die Hamas in Gaza gegen die Fatah im Westjordanland gestärkt, um eine Zweistaatenlösung zu verhindern. Denn solange die Palästinenser nicht mit einer Stimme sprechen, wird es keine Lösung geben. Die Hamas hat am 7. Oktober 2023 aber die Hand blutig gebissen, die sie all die Jahre genährt hat.

Ein wackliger Burgfriede

Trotz allem hatte sich zwischen Israelis und Palästinensern und allen drei Regierungen ein wackliger Burgfriede eingestellt, unterbrochen von kleineren Scharmützeln, an die sich die Bevölkerung fast schon gewöhnt hatte. Seit dem Bau einer Mauer durch das Westjordanland waren die blutigen Anschläge gegen Israel weniger geworden. Der normale Bürger in Israel/Palästina hat auf seinem Handy eine „Rocket App“, auf der Ort und Zeitpunkt von Raketenanschlägen angezeigt werden. Der Gang in den Bunker gehört auf beiden Seiten zur Normalität. Die politischen Versuche einer Zweistaatenlösung schienen angesichts dieses Status Quo praktisch obsolet. Wer will schon eine halbe Million Siedler ins kleine israelische Stammgebiet zurückführen? Wer dort lebt, dem drängt sich der Eindruck auf, dass sich beide Seiten mit ihren drei verschiedenen Regierungen auf unterschiedliche Weise im Provisorium eingerichtet haben.

Und es gibt jede Menge Profiteure: Auf der Seite der palästinensischen Autonomiebehörden ist der derzeitige Status der Nichtstaatlichkeit ein Geschäftsmodell für die Eliten. Das Geld aus dem Ausland fließt in Strömen und wird von der Autonomiebehörde der Fatah verteilt oder einbehalten. Viele palästinensische Politiker und Unternehmen leben davon. Auf der Länderliste der Steuerquoten taucht Palästina gar nicht auf, denn Steuern und Zölle werden von Israel vereinnahmt und wenn einbehalten, falls die israelische Regierung das für opportun hält. Es ist anzunehmen, dass sich das eigene Steueraufkommen in engen Grenzen hält. Die Autonomieregierung ist nicht gewählt und es scheint, dass es den Regierenden herzlich einerlei ist, wie es dem eigenen Volk geht. Auch die internationale Staatengemeinschaft hat sich mit der korrupten Abbas-Regierung im Westjordanland arrangiert.

Das israelische Militär zeigt Präsenz im Westjordanland
Das israelische Militär zeigt Präsenz im WestjordanlandImago / APA Images

Palästinenserkinder, denen es gelang, auf eine der begehrten christlichen Schulen zu gehen und die nach ihrem Abschluss fließend Deutsch oder Englisch sprechen, nehmen den nächsten Flug nach Europa oder Amerika. Ihre Eltern sparen sich die Ausbildung ihrer Kinder vom Munde ab – und der jüdische Staat freut sich über jeden jungen Palästinenser, der das Land verlässt. Die Bürger aber fühlen sich von der Fatah-Partei verraten.

In Gaza am Meer hat eine konkurrierende Palästinenserpartei, die radikale Hamas, 2007 die Wahlen gewonnen. Niemand in der Welt wollte den Wahlsieg dieser terroristischen Gruppe anerkennen. Seither hält die Hamas die eigene Bevölkerung von Gaza in Geiselhaft und regiert mit harter Hand über eine immer ärmer werdende Population. Der militärische Arm der Hamas hortet währenddessen Waffen, Baumaterialien und Kriegs-Know-How im Wert von Milliarden Dollar aus dem islamischen Ausland über die Türkei und den Iran. Diese Ausrüstungen lagern – wie wir jetzt genau wissen – in unterirdischen Tunneln unter Schulen, Krankenhäusern und Kindergärten.

Auch hier ist das eigene Volk den militärischen und politischen Eliten total einerlei.

 

Seit der Israelische Regierungschef Netanjahu eine Koalition mit den religiösen Parteien seines Landes und den radikalen jüdischen Siedlern eingegangen ist, hat sich auch auf israelischer Seite die Elite radikalisiert. Eine Reihe rechtsextremer oder ultraorthodoxer Minister machen den Vorschlag geschlechtergetrennte Strände auszuweisen und den Strom am Sabbat auszuschalten. Die gegenwärtige Justizministerin ist mit einem Werbespot weltweit bekannt geworden, auf dem sie mit laszivem Blick für ein Parfüm namens „Faschismus“ wirbt, das nach Demokratie riecht.

Minister provoziert Palästinenser

Itamar Ben Gvir, derzeit ausgerechnet Minister für die nationale Sicherheit Israels, provoziert etwa die muslimischen Palästinenser bei jeder sich bietenden Gelegenheit in dem er zum Beispiel an hohen muslimischen Feiertagen die weltberühmten Moscheen Al Axa und den Felsendom besucht und dies wie folgt kommentiert: „Ich freue mich, den Tempelberg in Jerusalem zu besuchen, den wichtigsten Ort für das jüdische Volk.“

Und er fährt fort: „Alle Drohungen der Hamas werden nichts helfen, wir sind der Hausherr in Jerusalem und im ganzen Land Israel.“

Der Traum, dort, wo heute die weltberühmten Moscheen stehen, einen Dritten jüdischen Tempel wieder aufzubauen, wird in Kreisen religiöser Eiferer immer konkreter. Das verbindet übrigens die Religiösen in der Regierung Netanjahu mit den christlichen Fundamentalisten in den USA, die ihrerseits Milliarden ins Siedlerprojet stecken. Denn nur wenn Israel in den Grenzen des biblischen David-Reiches wiederersteht – so die Narration – kommt der Messias (zurück). Wobei je nach Siedler-Fraktion das imaginierte Davidreich zusätzlich Syrien, den Libanon und Jordanien miteinschließt.

Gewinnen Radikale die Oberhand

Die anhaltenden Proteste liberaler Kräfte gegen eine geplante Abschaffung des Obersten Gerichts und damit der Gefährdung der demokratischen Balance in Israel, der ostentative Rückzug vieler Demokraten aus Militär und Geheimdiensten und der drohende Plan verschiedener Mitglieder der gegenwärtigen erzkonservativen Regierung, Israel zu einem jüdischen Gottesstaat umzubauen, hat die Situation in der Region eskalieren lassen und das ohnehin toxische Klima noch weiter vergiftet. Liberale demokratische Kräfte in Israel fühlen sich von ihrer Regierung verraten und Friedensarbeiter, die zum Beispiel jüdische und palästinensische Kinder gemeinsam erziehen werden zunehmend angegriffen. Die politischen und zivilen Kräfte die seit Jahrzehnten um Kompromisse ringen sehen ihre Chancen schwinden. Je kompromissloser sich ein Politiker geriert, desto mehr Rückhalt bekommt er in diesen Tagen.

Der Krieg in Gaza, die Opfer des Massakers vom 7. Oktober, die vermissten Geiseln, die ungezählten Toten in Gaza heizen die Lage noch weiter an. Nicht auszuschließen, dass Radikale auf allen Seiten künftig die Oberhand behalten, während israelische und palästinensische Bürger und die moderaten Kräfte auf allen Seiten in Hass und Furcht ihr Leben fristen müssen.

Und zwischen allen Stühlen: die Christen im Heiligen Land, mit ihren Schulen, Heiligen Stätten, Kirchen und Gästehäusern. Alle christlichen Denominationen sind in Jerusalem, in Israel und Palästina präsent, sie halten das Eigentum an vielen Filetgrundstücken in Jerusalem, im Westjordanland und am See Genezareth. In Palästina gibt es derzeit noch knapp zwei Prozent Christen – Tendenz fallend.

Die Christen im Land sind in der Regel Pazifisten. Sie fürchten die Gewalt von jüdischer und muslimischer Seite. Dabei ist ihre Position die einzige mit Zukunft. Pazifist zu sein und an Kompromissen zu arbeiten in Israel und Palästina, ist heute etwa so schwer wie damals, als Jesus seine Bergpredigt hielt.

Friedensgebete via Zoom

Derzeit lädt die evangelische Gemeinde dreimal in der Woche zum Friedensgebet über Zoom ein. Es findet dienstags, donnerstags und samstags um 18 Uhr statt. Wer dort hineinklickt kann sich ein ungefähres Bild der Lage aus erster Hand machen.

Wenn es bloß gelänge all diese von ihren Regierungen verratenen Völker in einen säkularen demokratischen Staat zu vereinen und all die Begabungen und Visionen für dieses Land zusammenzuwerfen, Israel/Palästina könnte wahrhaftig das Gelobte Land werden – allerdings ohne den Missbrauch der Religion.

Johanna Haberer ist Theologin und Journalistin. Bis zu ihrer Pensionierung 2022 war Haberer Professorin an der Universität Erlangen-Nürnberg, wo sie die Abteilung Christliche Publizistik leitete. Sie ist Mitherausgeberin der Berliner Wochenzeitung „Die Kirche “ aus dem Wichernverlag, der anteilig an diesem Portal beteiligt ist.