Stadtspaziergang zu den Drehorten von „Der Himmel über Berlin“

Gleisdreieck bis Staatsbibliothek: Torsten Flüh führt Filmbegeisterte durch die Stadt.

Stadtführer Torsten Flüh vor der Staatsbibliothek zu Berlin in der Potsdamer Straße. Mit Szenenfotos macht er die Drehorte des Films ­„Der Himmel über Berlin“ anschaulich
Stadtführer Torsten Flüh vor der Staatsbibliothek zu Berlin in der Potsdamer Straße. Mit Szenenfotos macht er die Drehorte des Films ­„Der Himmel über Berlin“ anschaulichUlrike Mattern

Die Zeit vergeht im Sauseschritt. „Ich kann den Potsdamer Platz nicht finden“, sagt Homer 1987 in dem Spielfilm „Der Himmel über Berlin“. Dieses Problem hätte er heute nicht mehr. Vor mehr als 35 Jahren wanderte der damals 86-jährige Schauspieler Curt Bois als Homer in Wim Wenders’ Meis­terwerk orien­tierungslos durch ein Niemands­land im Schatten der Mauer. Der Potsdamer Platz war eine Wüste. Homer sucht im Film das Café Josty, einst Treffpunkt von Literaten. Aber es ist lange verschwunden, im Zweiten Weltkrieg wurde es zerbombt. Im hohen Gras des Platzes steht ein Sessel, in dem sich Homer erschöpft niederlässt. An seiner Seite: ein Schutzengel. Diese unsichtbaren Wesen in ihren dunklen Mänteln begleiten die Menschen im Alltag: in der U-Bahn, auf Straßen und vor allem in der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße. Dort haben sie sich geräuschlos niedergelassen.

Blick in ein Berliner Biotop der 1980er-Jahre

„Der Film war keine Star-Produktion. Er entstand aus dem künstlerischen Berliner Biotop der 1980er-Jahre. Hier ließ die Regisseurin Ulrike Ottinger Zauberwelten entstehen, arbeiteten Filmemacher wie Lothar Lambert und Rosa von Praunheim“, sagt Stadtführer Torsten Flüh. „Wenders’ Film wurde vorwiegend in Schwarzweiß gedreht. Einige Passagen, insbesondere der Schluss, sind in Farbe. Es war eine völlig neue Art, Film zu machen.“ Gedreht wurde in Westberlin von Herbst bis Winter 1986/87, im Frühjahr 1987 feierte „Der Himmel über Berlin“ Weltpremiere auf dem Filmfestival in Cannes. Wim Wenders erhielt den Preis für die beste Regie.

Flüh, der Medien- und Literaturwissenschaft studiert hat, führt Besucher*innen bei dem zweistündigen Stadtspaziergang zu den Drehorten und zeigt dabei Szenenfotos, sogenannte Filmstills. „Wir gehen zu einigen authentischen Orten, etwa einem Teil des Grand Hotel Esplanade im Sony-Center und zum Bunker in der Schöneberger Straße.“ Auf dem ehemaligen Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg ist noch der Schriftzug zu erkennen, den man im Film sieht: „Wer Bunker baut, wirft Bomben.“

Auf den Spuren der Engel am Potsdamer Platz

Der Stadtspaziergang startet am U-Bahnhof Gleisdreieck. Von hier hat man einen ausgezeichneten Blick auf den Potsdamer Platz. Eine Perspektive, die ebenso einer der Engel im Film einnimmt. Bruno Ganz und Otto Sander spielen diese feinbesaiteten Begleiter, welche die Gedanken der Menschen hören. Sie legen ihnen – nur innerlich spürbar – tröstend Hand oder Kopf auf die Schulter. Allein Kinder nehmen die überirdischen Wesen wahr. „Die Engel können unglücklicherweise nicht in das Weltgeschehen eingreifen“, sagt Flüh. In einer Szene springt ein Mann vom Dach des ­Europacenters – der Engel Cassiel (Otto Sander), der an seiner Seite war, wendet sich tief erschüttert ab.

„Diese ganzen Versatzstücke ­finde ich wichtig für die Film­geschichte“, sagt Flüh. Sie hängen auch mit seiner Biografie zusammen. „In den 1980er-Jahren habe ich oft meine Patentante in Schöneberg besucht. Dann fuhr ich U-Bahn und habe den großen Platz gesehen.“

Von Kiel über Schanghai bis Dublin

Flüh wurde in Kiel geboren. Sein Vater war Schmalfilmer und gründete in seiner Heimatstadt den ­ersten Kieler Schmalfilmclub. „Das Thema hat mich seit meiner Kindheit begleitet. Ich weiß, wie Film sich materiell anfühlt.“ Torsten Flüh promovierte und arbeitete jahrelang an Universitäten im Ausland, unter anderem in Schanghai und Dublin. Bis heute hat er Lehrauf­träge inne. Das klingt nach trocken akademischem Brot bei einer geführten Tour, aber nicht mit Flüh. „Ich mache keine Wissensper­formance. Für mich ist es wichtig, die Menschen einzubeziehen und meine Faszination deutlich zu machen – die sie dann vielleicht nachvollziehen können.“

Berliner Staatsbibliothek als „zweites Zuhause”

Schluss- und Höhepunkt der Tour ist die Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße. „Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer“, sagt der Stadtführer, „waren noch nie hier.“ Für ihn sei sie „eine Art zweites ­Zuhause“. Hier liest und recherchiert er. Und hier entstanden die ikonischen Aufnahmen der Engel im Lesesaal, die von Lesendem zu Lesendem schreiten und ihre ­Gedanken hören. „Ich möchte, dass die Besucher*innen die Stille und das Wunder des Lesens nachempfinden können“, erzählt er. „Da gehen im Kopf Geschichten ab, werden Stimmen geweckt – das ist eine ganz ­besondere Leistung von Wim Wenders.“ Und das besondere Kunststück von Torsten Flüh ist es, auf seinem Stadt­spaziergang genau dieses Kopfkino auszulösen.

„Der Himmel über Berlin – ein ­Spaziergang zu den Drehorten des Films von Wim Wenders“, 23. Juli, 14–16 Uhr, 12 Euro. Information und Anmeldung unter www.crossroads-berlin.com