Raus aus der Warteschleife

Diakonie-Präsident Lilie beklagt die Auswirkungen des politischen Stillstands auf die Sozialpolitik. Dringenden Handlungsbedarf gibt es seiner Meinung nach an vielen Stellen

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BERLIN – Mangel an bezahlbaren Wohnungen, Not in der Pflege, Kompetenzgerangel bei der Bildung: Die Menschen in Deutschland warteten dringend auf Antworten der Politik, sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie in einem Gespräch mit Corinna Buschow. Der Chef des evangelischen Wohlfahrtsverbandes beklagt Monate nach der Bundestagswahl eine „Warteschleife“ bei sozialen Fragen.

Herr Lilie, mehrere Monate nach der Bundestagswahl gibt es immer noch keine neue Bundesregierung. Wirkt sich der derzeitige Stillstand auf die soziale Arbeit aus?
Drängende Fragen hängen in der Warteschleife – etwa die Zukunft der Pflege. Die Zahl der Hilfsbedürftigen steigt rasant an, und es stehen immer weniger qualifizierte Menschen zur professionellen Unterstützung bereit. Die angemessene Bezahlung von Pflegepersonal muss für die nächste Regierung höchste Priorität haben.
Druck macht auch die aktuelle Entwicklung in Europa. Flucht und Migration stehen immer noch auf der Tagesordnung. In Paris und Brüssel wartet man dringend darauf, dass Berlin wieder handlungsfähig wird und dass sehr bald eine neue Bundesregierung die soziale und gerechte Zukunft des Kontinents mitgestaltet. Die sozialen Folgen der Digitalisierung warten auch auf menschengerechte Gestaltung.

Bei welchen Problemen ist besonders dringender Handlungsbedarf?
Wir brauchen dringend bezahlbaren Wohnraum für alle. Dies erfordert konzertierte Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen.
In Berlin hat mehr als die Hälfte der Menschen Angst, ihre Wohnung auf Dauer nicht mehr bezahlen zu können. Das ist ein alarmierendes Signal. In München oder Frankfurt am Main können wir schon sehen, wohin es führt, wenn Menschen mit kleinem Portemonnaie rausgedrängt werden und am städtischen Leben nicht mehr teilhaben können. Die Lebensverhältnisse zwischen den boomenden Ballungsräumen und den abgehängten Regionen in alten Industrierevieren und auf dem Land driften immer weiter auseinander. Hier warten die Menschen dringend auf Antworten aus der Politik.

Wenn Sie eine Gesetzesänderung in den Koalitionsvertrag schreiben dürften, welche wäre das?
Bund und Länder müssen ihr Kompetenzgerangel in der Bildungspolitik beenden und das Problem gemeinsam anpacken. Es geht um die Zukunft unserer Kinder und unseres Landes. Das Bildungssystem wird immer weniger durchlässig. Wenn da nichts geschieht, werden soziale Unterschiede über Generationen hinaus zementiert. Die Herkunft eines Kindes darf nicht über seine Chancen im Leben entscheiden. Wir brauchen in diesem Jahr mehr Mut zur gestaltenden Veränderung statt populistischer Symboldebatten – das setzt die Beachtung ungeschriebener Gesetze voraus, deren Geltung wir alle verantworten.