Protestantismus und Literatur: „Nimm und lies!“

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse: Protestanten sind seit jeher geübte Leser. Ein zentrales Anliegen Martin Luthers war, dass die Heilige Schrift allen zugänglich ist.

Die Stadsbibliothek in Stockholm lädt auf mehreren Etagen zum Stöbern und Schmöckern ein
Die Stadsbibliothek in Stockholm lädt auf mehreren Etagen zum Stöbern und Schmöckern einUnsplash / Susan Q Yin

Eine aufgeschlagene Bibel liegt auf dem Altar einer evangelischen Kirche. Jeder kann schon von Weitem sehen, dass im Mittelpunkt des evangelischen Glaubens ein Buch steht. Um diese Heilige Schrift versammelt sich die Gemeinde jeden Sonntag. Im Gottesdienst wird aus der Bibel vorgelesen. Über das Gelesene wird gepredigt.

In Bibelkreisen wird die Bibel ganz genau gelesen. Wichtige Stellen werden markiert. Es wird nachgefragt und diskutiert. Johann Hinrich Claussen, der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), stellt fest: „Der Protestantismus hat das Lesen fast zu einer religiösen Tätigkeit gemacht.“

Lesen gehört zum Glaubens­leben des evangelischen Christen wie der Kirchgang. Der Lesende bildet sich, indem er sich zurückzieht, ein Buch liest und das Gelesene auf sich wirken lässt. Nun wurde die evangelische Kirche nicht erst im Jahr 1517 gegründet. Sie ist vielmehr am Pfingstfest in Jerusalem entstanden. Damals kam der Heilige Geist auf die Versammelten herab und erfüllte sie mit Gottes Geist.

Vor dem Verstehen steht das Lesen

Vor dem Verstehen steht in einer Schriftreligion stets das Lesen. Und so gibt es in der Kirche eine lange Tradition des Lesens. In der Alten Kirche war der Kirchenvater Hieronymus (357–420) ein Sinnbild des Lesenden. Auf Bildern wird dieser Kirchenvater oft beim Studium von Büchern gezeigt. Auf Albrecht Dürers Stich lagert vor ihm ein Löwe, der wie ein Wachhund dafür sorgt, dass der Gelehrte beim Bücherlesen und Studieren nicht von störenden Besuchern unterbrochen wird. Ungestörtes Lesen war schon im 4. Jahrhundert ein Luxus.

In seinem Buch „Bekenntnisse“ schildert der Kirchenvater Augustinus (354–430), wie er im Garten eine Stimme hörte, die mehrmals rief: „Nimm und lies!“ Augustin nahm eine Schriftrolle des Römerbriefs in die Hand. Was er da las, überwältigte ihn so sehr, dass er sich wenig später taufen ließ. Lesen verwandelt Menschen. So sagte Franz Kafka: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Die Reformatoren als gebildete Leser

Lesen konnten zunächst nur die Gebildeten. Die Klöster waren Orte, an denen gelesen und Bücher mit der Hand kopiert wurden. Auch beim Essen wurde in Klöstern laut vorgelesen. So heißt es in der Ordensregel des Heiligen Benedikts: „Zu den Mahlzeiten der Brüder soll stets gelesen werden. Und es soll die größte Stille herrschen bei Tisch, so dass kein Flüstern und kein Laut vernehmbar ist außer der Stimme des Vorlesers.“

Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts waren allesamt gebildete Leser. Sie nahmen­ sich das Recht heraus, das Wort Gottes selbst zu lesen und zu verstehen. Und das trauten sie sich und auch allen anderen Gläubigen zu – eine Absage an eine autoritäre Auslegung durch die kirchliche Obrigkeit­.

In seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ appellierte Martin Luther 1520 an die Obrigkeit, die Schulbildung für das Volk voranzubringen, aber dabei auf die Qualität der Bücher zu achten: „Die Bücher müsste man auch vermindern und erlesen die besten; denn viele Bücher machen nicht gelehrt, viel lesen auch nicht, sondern gut Ding und oft lesen.“ Bis allen Kindern in der Fläche eine gute Schulbildung eröffnet wurde, vergingen allerdings noch mehrere Jahrhunderte.

Für Bauern- und Handwerkssöhne auf dem Lande wurde eine Grundbildung in der Volksschule lange als ausreichend angesehen. Das notwendige Volksschulwissen der Mädchen galt als vernachlässigbar. Zur Ausbildung des Pfarrernachwuchses wurden zum Beispiel in Württemberg die ehemaligen Klosterschulen in Evangelische Seminare umgewandelt.

Pfarrer sollen Bibel in Original-Sprache lesen

Die neuen Erkenntnisse der Reformatoren gingen mit dem technischen Fortschritt einher. Johannes Gutenberg stellte mit seinem Buchdruck mit beweglichen Lettern die Technologie bereit, deutsche Bibeln, Flugschriften, Traktate, Lehrbücher und Predigtsammlungen unter die Leute zu bringen. Im Pietismus dann kamen die „Laien“ am Sonntagnachmittag in den Gemeinschaftsstunden zusammen, um die Bibel zu lesen und von mehreren Brüdern auslegen zu lassen. Gemeinsames Beten und Singen wie das Vorlesen von Erbauungsliteratur dienten der Stärkung und erzeugten eine emotionale Verbundenheit.

Die Orientierung am protestantischen Grundsatz des „sola scriptura“ (allein die Schrift) führte zu einer Wertschätzung des Lesens in den Ursprachen der Bibel. Die Pfarrer sollten die Bibel in den originalen Sprachen, die „Laien“ sie mindestens in der übersetzten Muttersprache lesen können. Das Lesen war eine entscheidende Voraussetzung für den Glauben als eine Überzeugung, die Gefühl und Verstand miteinander verband.

Mit der Aufklärung kommen Romane auf

Spätestens mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts weitet sich das Angebot des Lesestoffs aus. Neben der Bibel, dem Gesangbuch und den Texten antiker Philosophen kamen nun auch Romane, Erzählungen und anderes auf den Markt. Die Unterhaltungsliteratur hatte jedoch keinen guten Leumund: Sie fördere die „Lesesucht“.

Aus einem Buch sind viele Bücher geworden. Aus dem Lesen guter Bücher schöpften Sophie und Hans Scholl, die im NS-Staat zur Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ gehörten, Kraft für ihren entschiedenen Einsatz. Das Lesen führte sie zu einer Freiheit der Entscheidung: für das Gute, das Notwendige.

Mit der Digitalisierung ändert sich das Leseverhalten

Mit der Digitalisierung ist das Angebot an Büchern, Texten, Bildern und Videos explodiert. Waren einst Bücherregale in einer Wohnung ein Statussymbol, so werden sie jetzt als überflüssig angesehen. An die Stelle der Regale sind Festplatten und Clouds getreten. Statt der Bibel auf dem Schreibtisch sind im Internet nun viele Bibelübersetzungen frei verfügbar. Das schwarze Ringbuch, das die Pfarrerin früher im Gottesdienst benutzte, ist durch das Tablet ersetzt. Statt des Gesangbuchs wirft nun der Beamer die Lieder an die Wand.

Damit Texte im Internet gelesen werden, müssen sie kurz sein und schnell auf den Punkt kommen. Statt konzentriert und tiefgehend zu lesen, ist nun das flache, schnelle und oberflächliche Lesen angesagt. Manche verzichten auf Lesen von Büchern oder Artikeln und verbringen dafür viel Zeit mit sozialen Medien wie Twitter. Ob sich Glaubenswahrheiten, Überzeugung, Vertrauen, Alltagsethik in 280 Zeichen pressen lassen, darf allerdings bezweifelt werden.

Zärtlich schlägt die Messnerin am frühen Sonntagmorgen die Bibel auf dem Altar an der richtigen Stelle auf. Das Fest kann beginnen.

Peter Schaal-Ahlers ist Pfarrer am Ulmer Münster.