Otto Wels und das Ende der deutschen Demokratie

Unter einer riesigen Hakenkreuzfahne, mit bewaffneten SS-Männern im Publikum hält er 1933 die berühmteste Rede der deutschen Parlamentsgeschichte. Vor 150 Jahren wurde SPD-Ikone Otto Wels geboren.

Otto Wels bei einer Rede im Berliner Lustgarten (1930)
Otto Wels bei einer Rede im Berliner Lustgarten (1930)epd-bild / akg-images

Es war einer der bewegendsten Auftritte der Parlamentsgeschichte: Der SPD-Vorsitzende Otto Wels trat ans Rednerpult, um Adolf Hitler die Stirn zu bieten – und das in de facto aussichtsloser Position. Das von den Nationalsozialisten vorgelegte Gesetz zur Entmachtung des Reichstags, das Ermächtigungsgesetz, wollte die SPD als größte Oppositionspartei nicht mittragen. Mutig begründete Wels das Nein seiner Partei zur Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Berühmt wurden seine Worte: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“

Sein Auftritt gilt als letzte freie Rede im Reichstag. Otto Wels (1873-1939) zählte zwischen der Revolution von 1918/19 und der Machtübernahme der Hitler-Partei NSDAP zu den führenden Sozialdemokraten, die die Weimarer Demokratie gegen ihre Feinde von rechts und von links zu verteidigen suchten. Vor 150 Jahren, am 15. September 1873, wurde er in Berlin geboren.

Menschlichkeit, Freiheit und Sozialismus

23. März 1933: Als Wels im Parlament das Wort ergreift, ist Hitler seit knapp zwei Monaten Reichskanzler. Wels spricht ruhig und beherrscht und ohne scharfe Polemik. So will er vermeiden, von den nationalsozialistischen Abgeordneten, die in brauner Uniform erschienen sind, niedergeschrien zu werden. Im Plenarsaal in der Berliner Kroll-Oper, die nach dem Reichstagsbrand als Ersatztagungsort dient, sind bewaffnete Männer von SA und SS postiert. Über dem Rednerpult prangt eine riesige Hakenkreuzfahne.

Trotz der einschüchternden Kulisse richtet Wels klare Worte an die Regierung unter Hitler und warnt vor deren „Allmacht“: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten“, betont der Politiker, der seit 1919 an der Spitze der SPD steht. Er bekennt sich „in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus“.

SPD stimmt geschlossen ab

Es geht im Parlament um das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“. Danach kann die Hitler-Regierung Gesetze ohne das Parlament beschließen, Gewaltenteilung und Rechtsstaat sind abgeschafft. Die Nationalsozialisten hatten nie ein Hehl aus ihrer Absicht gemacht, eine Diktatur in Deutschland zu errichten, wollten aber mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz den Schein der Legalität wahren.

Am Ende stimmt die SPD als einzige Fraktion geschlossen gegen das Gesetz. Es wird mit der notwendigen verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit verabschiedet. Auch das katholische Zentrum und die kleineren bürgerlichen Parteien stimmen mit Ja. Allerdings sind nur 94 der 120 gewählten SPD-Abgeordneten anwesend. Viele sind bereits in Haft oder auf der Flucht, ebenso wie die 81 Parlamentarier der KPD.

Aufgewachsen im Berliner Norden

Als Otto Wels im Parlament spricht, ist er 59 Jahre alt, herz- und leberkrank. Wer war dieser Mann mit dichtem Haarschopf und Schnurrbart, der auf einem Foto aus dem Jahr 1932 als Redner in kämpferischer Pose zu sehen ist? Er sei „ein großherziger Mensch mit Ecken und Kanten“ gewesen, unerschrocken und humorvoll, aber auch „unbeugsam bis hin zur Sturheit“ sowie bekannt für sein cholerisches Temperament, charakterisierte ihn einmal der SPD-Politiker Manfred Stolpe.

Otto Wels kam schon früh mit Politik in Berührung: In der Gastwirtschaft seiner Eltern im Berliner Norden verkehrten prominente Sozialdemokraten wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Als Junge lauschte Wels den politischen Gesprächen und verschlang die sozialistische Literatur. Mit 18 Jahren trat er in die SPD ein. Er erlernte nach der Volksschule das Tapezierer-Handwerk und ging als Handwerksbursche auf Wanderschaft. 1907 wurde er SPD-Parteisekretär in Brandenburg. 1912 zog er als Abgeordneter in den Reichstag ein, 1913 wurde er in den Parteivorstand gewählt.

Grab auf Pariser Friedhof

Der Politiker, der im Juni 1919 zusammen mit Hermann Müller zum SPD-Vorsitzenden gewählt wurde, hatte nie ein Ministeramt inne. Nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 und dem Rücktritt von Reichswehrminister Gustav Noske schlug ihn die SPD-Fraktion einstimmig als Nachfolger vor, doch Wels lehnte ab. Seinen Platz sah er vor allem in der Partei. Dabei spielte vielleicht eine Erfahrung aus den Wirren der Revolution von 1918/19 eine Rolle: Wels war kurze Zeit Stadtkommandant von Berlin und wurde von linksradikalen Matrosen als Geisel genommen. Er musste mit militärischer Gewalt befreit werden und trat anschließend zurück.

Nur drei Monate nach dem denkwürdigen Auftritt von Otto Wels wurde der SPD im Juni 1933 jede Betätigung untersagt, das endgültige Parteiverbot folgte im Juli. Wels war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr in Deutschland, er flüchtete nach seiner Rede zunächst nach Prag, um die Exilorganisation der Partei aufzubauen, 1938 dann nach Paris. Dort starb er nach langer Krankheit am 16. September 1939, einen Tag nach seinem 66. Geburtstag. Auf dem Vorortfriedhof von Châtenay-Malabry liegt er begraben. Auf dem schlichten Grabstein stehen die berühmten Worte aus seiner Rede 1933.