Ohne Hass und Eifer

Christoph Hein ist ein „Chronist ohne Botschaft“. So lautet der Titel eines Arbeitsbuches über ihn und so sieht er sich auch selbst, wie er einmal sagte: „Bei ‚Lehre‘ halte ich mich ein bisschen zurück, das geht so in Richtung Botschaft und Moral, was ich eigentlich für mich und mein Arbeiten ablehne. Ich will das Publikum nicht belehren und habe da auch wirklich keine Botschaft.“ Was er allerdings immer hatte, das war eine kritische Haltung.

Der literarische Durchbruch gelang Hein, der am 8. April 80 Jahre alt wird, mit der Novelle „Der fremde Freund“. Sie kam 1982 in der DDR und ein Jahr später unter dem Titel „Drachenblut“ auch im Westen heraus: die kühle und nüchterne Lebensbetrachtung einer 40 Jahre alten Ärztin in Ost-Berlin.

Seine kritische Haltung bereitete ihm bereits als Schüler erste Probleme. „Politische Unzuverlässigkeit“, so lautete das Urteil mit Folgen. 1944 als Sohn eines Pfarrers in Schlesien geboren, kam er mit der Flucht seiner Eltern nach Bad Düben bei Leipzig und durfte in der DDR nicht das Gymnasium besuchen. Noch war die Mauer nicht gebaut, er entschied sich für ein Gymnasium in West-Berlin.

In seinem autobiografischen Buch „Von allem Anfang an“ erzählt er, wie er zwischen den beiden deutschen Staaten hin- und herpendelt, ein Jugendlicher, der bindungslos in der Luft hängt, aber auch Freiheit und Unabhängigkeit genießt. Doch nach Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 war es damit vorbei. Der Gymnasiast sah den Westen und seine Schule hinter der Mauer verschwinden und blieb ohne Schulabschluss bei den Eltern im Osten. Mit 20 Jahren durfte er das Abitur doch noch nachholen, schrieb sich für das Studium der Philosophie und Logik ein.

Doch schon vor dem Studium hatte das Theater gelockt, in der DDR ein eminent wichtiger Ort politischer Öffentlichkeit und Auseinandersetzung. Neue Stücke und Inszenierungen wurden von der Zensur begutachtet und nicht selten abgelehnt. Hein arbeitete ab 1963 als Dramaturg an der Volksbühne in Berlin/Ost, wo der Brecht-Schüler Benno Besson das Talent des jungen Mitarbeiters erkannte und ihn als Autor fest beschäftigte.

In den folgenden Jahren entstand eine Vielzahl von Theaterstücken, deren Schicksal zumeist war, nicht gespielt zu werden. Bis 2004 schrieb er 16 Stücke, historische wie „Lassalle fragt Herrn Herbert nach Sonja. Die Szene ein Salon“ oder Parabeln wie „Die wahre Geschichte des Ah Q“, die verschlüsselt die Kritik an der Bürokratie und den Verlust emanzipatorischer Hoffnungen zum Thema haben.

Wer wissen will, wie und warum die DDR scheiterte, kann das an Heins Dramen ablesen – am deutlichsten in „Die Ritter der Tafelrunde“ (1989), wo Artus, Lancelot, Parzival und andere, alt geworden und müde, wissen, dass das „einzig Sichere eine vage Hoffnung ist“. Das Publikum kann eine Gesellschaft in vollendeter Perspektivlosigkeit besichtigen.

Der Autor dieser Dramen hat sich also nicht gewundert, als es mit der DDR zu Ende ging, und dennoch hat er sich von emanzipatorischen Hoffnungen oder sozialistischen Idealen nie losgesagt. Die Herrschenden der DDR nannte er „Saboteure der Wirtschaft, kriminelle Ganoven und Schieber, Mitglieder einer Mafia, deren Ziel die Zerstörung des Sozialismus war“.

Nach der deutschen Vereinigung blieb Hein politisch aktiv, wurde Herausgeber der Wochenzeitung „Freitag“. Zwei Jahre lang, von 1998 bis 2000, amtierte er als Präsident des ebenfalls wiedervereinigten PEN-Zentrums. Der Vater von zwei Söhnen, Georg und Jakob, ist in zweiter Ehe verheiratet, seine erste Frau starb 2002 an Krebs.

Die literarische Produktion veränderte sich. Hein schrieb zwar weiter für das Theater. Aber im Zentrum standen fortan seine Romane, „Willenbrock“ (2000) etwa, über einen Gebrauchtwagenhändler in Berlin. Es ist „das Psychogramm eines Gefährdeten in einer gefährlichen Welt“, wie Dorothea Dieckmann in der „Neuen Zürcher Zeitung“ schrieb: Willenbrock ist einer, der merken muss, dass die Träume von einer blühenden gesamtdeutschen Gesellschaft an der Wirklichkeit gescheitert sind. 2005 verfilmte Regisseur Andreas Dresen den Roman.

Höhepunkte seines Prosa-Schaffens sind „Glückskind mit Vater“ (2016), „Trutz“ (2017) und „Verwirrnis“ (2018), große Romane über die deutsche Geschichte, die die Regime übergreifen. Inhaltlich reichen sie teilweise bis in die Kaiserzeit zurück, lassen die Nazi-Diktatur und die Nachkriegszeit, DDR und neue Republik anhand von Lebensberichten Revue passieren. Hier beweist sich Heins Stärke als Beobachter: Geschichte erscheint als staatliche Abfolge von Zumutungen, gegen die sich Menschen nach Kräften wehren, um für ihr Lebensglück zu kämpfen.

„Landnahme“ (2004) beschreibt das Schicksal eines Aussiedlers, „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ den Tod eines RAF-Terroristen, „Weisskerns Nachlass“ (2011) einen Akademiker in wirtschaftlich prekären Verhältnissen. Der Erzähler geht ausgesprochen empathisch mit seinen Figuren um. Er hat sich selbst einmal als „Chronist ohne Hass und Eifer“ beschrieben. Ob es die Lebensumstände sind oder die Dialoge – alles ist sehr genau beobachtet und beschrieben. Christoph Hein ist immer auch ein großer Realist.