Neues Buch zum Kolonialismus in deutschen Wohnzimmern

Kolonialismus ist nicht nur ein Thema, über das heftig in der Politik diskutiert wird. Wie nahe einem die Angelegenheit kommen kann, hat die Journalistin Nicola Kuhn an einem geliebten Erbstück festgestellt.

Nicola Kuhn hatte in ihrem Wohnzimmer ein Erbstück ihres Hamburger Urgroßvaters stehen, einen chinesischen Paravent, ein Windschutz oder auch eine Trennwand, mit einem gewaltigen Drachen. Für eine Artikelserie im ersten Corona-Winter recherchierte sie, woher das Teil stammte. Dabei lernte sie mehr über die Rolle, die ihr Urgroßvater vor mehr als 100 Jahren erst in China, dann in Deutsch-Südwestafrika gespielt hatte. Auf einmal kam die Diskussion um den Kolonialismus in ihrem Wohnzimmer an, erzählt sie in ihrem Buch “Der chinesische Paravent”.

Nach ihren Recherchen hängen unüberschaubar viele Objekte aus den ehemaligen Kolonien als Relikte einer verdrängten Vergangenheit in deutschen Wohnzimmern. “Die Souvenirs aus den Kolonien zeigen das geografische Spektrum des deutschen Imperialismus von China über Ozeanien bis nach Afrika”, schreibt Kuhn. “Zu Hause sollten sie exotisches Flair verbreiten und eine Prise abenteuerlicher Vergangenheit in die biedere Gegenwart wehen.”

In ihrem Buch geht sie auf die Spurensuche mit anderen Familien, die ebenfalls ein solches Erbstück besaßen, deren Herkunft aber sich als unvollständig weitergegeben erwies. Wie gehen sie mit den Teilen um, nachdem sie von der Geschichte dahinter erfahren haben? Einer von ihnen ist Gerhard Ziegenfuss, der einen Schädel in der Schublade verwahrte.

Sein Großonkel Alois Ziegenfuß (1872-1948) ging 1900 als Missionar des Oblatenordens (Hünfelder Oblaten) nach Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia, damals eine deutsche Kolonie. Er hatte zwischen 1904 und 1906 als Feldgeistlicher am Krieg gegen die Herero und Nama teilgenommen – heute wird das Vorgehen der Deutschen als Genozid gewertet.

Aus der Zeit des Krieges stammte wohl der Schädel. Tausenden Toten wurden die Köpfe abgetrennt und für Forschungszwecke nach Deutschland geschickt, um die seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend diskutierte Rassenlehre wissenschaftlich zu untermauern, erklärt Kuhn. Was den Fall Ziegenfuß so einzigartig macht, ist nach Angaben der Autorin, dass man nun weiß: Auch in privatem Besitz befinden sich menschliche Überreste in unbekannter Zahl.

Gleichzeitig ist es laut Kuhn der erste aus privatem Besitz repatriierte Schädel. Er ging 2018 zurück an Namibia. Damit endete für Gerhard Ziegenfuss ein ganz großes Anliegen, denn er versuchte schon seit 1995 auf Veranlassung seiner Ehefrau Friederike, den Schädel wieder zurückzugeben.

Das Private ist politisch, hieß es immer wieder und das gilt auch in diesem Zusammenhang. “Familiäres Erbe ist zwar eine Privatangelegenheit, aber durch den kolonialen Kontext hat es eine gesellschaftspolitische Dimension”, sagt Nicola Kuhn. Sie möchte mit ihrem Buch “ein Bewusstsein dafür wecken, damit künftig auch im privaten Umfeld bestimmte Mythen vom ‘guten’ Kolonialisten und Muster weißer Überlegenheit nicht mehr unkritisch weitergegeben werden”.

Nicht jeder möchte im Wohnzimmer ein Objekt aus kolonialen Zeiten behalten, dessen Geschichte einem Unwohlsein bereitet. Aber was tun? An wen kann man sich wenden? Dann wird es schwierig, sagt Nicola Kuhn. Sie weist darauf hin, dass Museen in Deutschland koloniale Erbstücke ablehnen müssen, wenn genauere Hinweise auf die Herkunft fehlen und ein Unrechtszusammenhang nicht ausgeschlossen werden kann.

Für Privatbesitzer gibt es keine Ansprechpartner, daher schlägt sie vor, sich am Beispiel der Niederlande zu orientieren. Dort gibt es den Beruf des Archivermittlers, der Privatleuten als Lotse bei Recherchen helfen kann. Denn “die individuelle Erinnerung, eine empathische, ja emotionale Annäherung gilt dort als wichtiger Bestandteil der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit der kolonialen Vergangenheit.”