Nahostkonflikt: „Das größte Problem ist jetzt die Angst“

Die Berliner Pfarrerin Anke-Schwedusch-Bishara hat Familie im Westjordanland, Pfarrer Gerhard Begrich war oft in Israel. Im Interview sagen sie, ob Versöhnung eine Illusion ist.

Strassensperre in Beit Jala südlich von Jerusalem
Strassensperre in Beit Jala südlich von JerusalemImago / UPI Photo

Pfarrerin Anke Schwedusch-Bishara aus der Kirchengemeinde Berlin-Müggelheim hat Familie im Westjordanland. Der pensionierte Pfarrer Gerhard Begrich und frühere Leiter des Pastoralkollegs Kloster Drübeck war in seinem Leben über 40-mal in Israel. Im Gespräch mit Markus Böttcher, Pfarrer in Berlin-Friedrichshagen, erzählen sie vom Leben im Heiligen Land, über die Gebete des Weltgebetstages und darüber, ob die Menschen im Nahen Osten Hoffnung haben und ob Versöhnung eine Illusion ist.

An welche konkreten Menschen denkt Ihr seit dem 7. Oktober, dem Angriff der Hamas auf Israel und dem Krieg in Gaza, besonders?
Gerhard Begrich: An Ismael, einen arabischen Fahrer. Er sagt zu allen, die ihm die Vorfahrt nehmen: „Dieser Abu Sift“, was „Vater des Schlechten“ bedeutet und ein eher freundliches Schimpfwort ist. Und an Rachel, eine Frau aus der Schweiz, die als Jüdin nach Jerusalem kam und die sich jetzt fragt, ob sie zurückkehren soll. Und ich denke an Esther, 92 Jahre alt, die 1937 aus der heutigen Slowakei in ein Land einwanderte, das noch nicht Israel war, sondern britisches Mandatsgebiet. Sie spricht ein schönes slowakischböhmisches Deutsch. Damals ging sie dorthin, um zu überleben. Diese Generation, die so viel erlebt hat, hatte immer große Angst um die Enkelkinder, schon vor dem 7. Oktober. Aber jetzt haben alle Angst.

Pfarrerin Anke Schwedush-Bishara
Pfarrerin Anke Schwedush-BisharaMarkus Böttcher

Anke Schwedusch-Bishara: Ich denke an die Familie meines Mannes, die in Beit Jala, in der Nähe von Bethlehem lebt. Die deutsche evangelische Schule Talitha Kumi ist dort, ein Teil der Familie arbeitet da. Und an eine Freundin, die in Jerusalem wohnt, eine Friedrichshagenerin, die vor einiger Zeit dorthin gezogen ist. Ich denke auch an die entführten Menschen aus Israel. Die Leute in Gaza. Manche von ihnen sind ja Christen. Die meisten sind in die orthodoxe oder katholische Kirche in Gaza geflüchtet und hungern und dürsten dort. Oder werden auf dem Weg zur Toilette im Hof der Kirche von Scharfschützen getötet.

Wie geht es der Familie deines Mannes und den Menschen in Beit Jala?
Anke Schwedusch-Bishara:
Noch schlechter als vorher. Der Weg zur Schule ist versperrt, überall gibt es Straßenblockaden, kaum noch einer kann zu seiner Arbeit gehen. Weil keine Touristen ins Land kommen, gibt es für die meisten sowieso kaum noch Lebensgrundlagen.

Gerhard Begrich, pensionierter Pfarrer
Gerhard Begrich, pensionierter PfarrerMarkus Böttcher

Gerhard Begrich: Die Leute in der Region leben von Diamantenschleiferei und Tourismus. Das verträgt sich nicht mit dem Krieg.

Anke Schwedusch-Bishara: Sie sind alle seit langem schon Überlebenskünstler. Aber das größte Problem jetzt ist die Angst.

Gerhard Begrich: Und die kann man keinem nehmen und auch nicht verbieten.

Anke Schwedusch-Bishara: Die jüngeren Leute haben mehr Angst. Meine Schwiegermutter, die 93 Jahre alt ist, hat keine Angst mehr. Sie hat schon viel erlebt und ist auch schon etwas durcheinander. Sie fantasiert immer von einem jüdischen Mädchen, das zu ihr kommt und mit dem sie redet. Wenn ich sie sehe, frage ich immer: Na, wie geht es dem jüdischen Mädchen?

Kann es sein, dass es das jüdische Mädchen wirklich gibt?

Anke Schwedusch-Bishara: Möglicherweise gab es das in der Vergangenheit. Aber einen Kontakt zwischen jüdischen und arabischen Menschen gibt es dort ja schon lange nicht mehr. Meine Schwiegermutter sagt, das jüdische Mädchen interessiere sich für den Messias.

Gerhard Begrich: Eine alte Erfahrung derer, die vom Messias träumen, ist, dass er immer zu spät kommt. Im Psalm 119, im Vers 126 ist diese Erfahrung niedergeschrieben: „Es wird Zeit, dass der Herr handelt.“

Christen sind in Palästina in der Minderheit. Gab es für deine Familie deshalb Schwierigkeiten?
Anke Schwedusch-Bishara:
Beit Jala ist ein christlicher Ort, da ist man unter sich. Aber ich habe Befürchtungen für die Zukunft. Die Christen werden weniger. In Bethlehem, was ein christlicher Ort war, sind sie jetzt schon in der Minderheit.

Grenzübergang nach Jerusalem
Grenzübergang nach JerusalemKathrin Neuhaus

Gerhard Begrich: Jassir Arafat kam Heiligabend dort immer in den Gottesdienst. Seine Frau ist Christin.

Anke Schwedusch-Bishara: Als meine Schwiegermutter jung war, sind sich Christen und Muslime und Juden täglich begegnet. Heute lebt man – zumindest im Westjordanland und Gaza – strikt voneinander getrennt.

Wie sollten wir den Weltgebetstag, der aus Palästina kommt, feiern? In der im Sommer erschienenen Liturgie kommt der Staat Israel nicht vor. Sollten wir nicht auch für Israel beten?
Anke Schwedusch-Bishara (hat die Liturgie des Weltgebetstages in der Hand): Es wird in der Liturgie gleich am Anfang für alle gebetet, „die in dem Land leben, in dem Jesus gelebt und gelehrt hat“. In der Fürbitte heißt es: „Beschütze uns vor allen Formen von Gewalt, Verletzung und Rache.“

Stört euch, dass der Staat Israel in den Gebeten nicht vorkommt?
Gerhard Begrich: Es reicht, wenn für die Menschen dort gebetet wird. Christen können nicht für Israel ohne Palästina beten oder für Palästina ohne Israel. Und schon gar nicht kann ein Christ gegen jemanden beten.

Anke Schwedusch-Bishara: In der Liturgie steht auch: „Lehre uns dem Beispiel Jesu zu folgen und alle im Land in Liebe zu ertragen.“ Starke Worte!

In Deutschland wurde die Liturgie verändert und an die neue Situation seit Kriegsbeginn angepasst. „Einander in Liebe ertragen“ in einem Land, wo Krieg ist – kann man das nach dem 7. Oktober noch so beten?
Gerhard Begrich: Das Gebet ist hervorragend. Man könnte auch dafür beten, dass keine der beiden Seiten den Krieg gewinnt. In dem Buch „Kassandra“ von Christa Wolf steht ein bemerkenswerter Satz: „Erst wenn ihr aufhört zu siegen, werdet ihr leben.“

Das Wort „Versöhnung“ geistert in meinem Kopf herum. Du, Anke, sagtest bei der Vorbereitung: „Versöhnung ist ein zu großes Wort.“ Es sei der zehnte Schritt, vorher kämen neun andere schwierige Schritte. Ich verstehe, dass es uns leichter fällt, das Wort Versöhnung in den Mund zu nehmen als etwa der Familie deines Mannes.
Anke Schwedusch-Bishara: Versöhnung ist gar nicht ihr Thema.

Haben Sie Hoffnung?
Anke Schwedusch-Bishara: Nein, keine. Schon vor dem Krieg. Sie hoffen höchstens auf Verschonung.

Gerhard Begrich: Schon gar keine Hoffnung, die für alle gleich wäre.

Anke Schwedusch-Bishara: Sie wollen einfach ihren Frieden. Sie haben ein eigenes Haus, einen Garten. Der liegt übrigens direkt neben einer Station der israelischen Armee, die jetzt dort natürlich mit gezückten Waffen patrouilliert. Sie wollen einfach in Ruhe ihr Leben leben.

Ist Versöhnung in Israel und Palästina eine Illusion?
Gerhard Begrich: Die Texte, die wir in der Kirche haben, die wir predigen, sind unglaublich vollmundig: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Etwas bescheidener wäre besser: Einander ertragen, den anderen sein zu lassen wie er ist, ihm keinen Schaden zuzufügen, das wäre schon viel.

Anke Schwedusch-Bishara: Das ist im Moment schon ein weit entferntes Ziel. Fast eine Illusion.

Werden sie das schaffen, irgendwann?
Anke Schwedusch-Bishara: Es ist für die einzelnen Menschen gar nicht das Problem, sich zu vertragen. Durch die Mauern und Zäune gibt es aber für viele – außer zum Beispiel in Jerusalem – gar nicht die Chance, es zu probieren.

Gerhard Begrich: Das Spannende ist: Auch in solchen schrecklichen Situationen gibt es Liebe. Das ist manchmal wie eine Revolution. Ich weiß von einem jungen Israeli, der sich in eine Palästinenserin verliebt hat – das kommt vor! Er war Soldat und lernte sie an einem Kontrollpunkt kennen. Zuerst hat er sie schikaniert. Dann verliebte er sich in sie. Die Frage war dann für die beiden: Wo können wir leben? Es gab für sie weder in Israel noch in Palästina die Möglichkeit, zusammen zu leben. Am Ende sind die beiden nach Deutschland gezogen. Ich hoffe, dass die Liebe hält. Menschen sind manchmal fähig, aus Liebe die verrücktesten Dinge zu tun.