Jesuit Klaus Mertes: Hören ist bedeutsamer als Sehen
Als ehemalige Schüler des katholischen Canisius-Kollegs in Berlin zu Klaus Mertes kamen und ihm als Rektor von ihren Missbrauchserfahrungen erzählten, brach er öffentlich das Schweigen. Ein Interview.
Ein Gespräch über Ökumene, das Hören und das Schweigen zu sexualisierter Gewalt mit dem Jesuiten Klaus Mertes, der als früherer Rektor des Canisius-Kollegs (2000–2011) und als Mitglied im Kuratorium der „Stiftung 20. Juli 1944“ auch die evangelische Kirche prägte, anlässlich seines 70. Geburtstages.
2001 gehörtest Du zu den Mitbegründern des Interreligiösen Gebetes Berlin auf dem Gendarmenmarkt. Wie bist Du als Mitglied des Jesuitenordens ein überzeugter Ökumeniker geworden?
Klaus Mertes: Berlin hat mir die Erfahrung von gelebter Ökumene geschenkt. Die konfessionellen Barrieren wurden durch den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Plötzensee überwunden. Widerstand war nicht Frucht einer ökumenischen Gesinnung, sondern die ökumenische Gesinnung war Frucht des Widerstandes. Diese Erkenntnis hat mich zum Ökumeniker gemacht. Im säkularen Berlin habe ich die Gebetsgemeinschaft der unterschiedlichen Konfessionen besonders schätzen gelernt. In meiner katholisch-rheinländischen Heimat habe ich viele Jahre in einem evangelischen Kirchenchor gesungen hatte. Das prägt. Gesang ist für mich Gebet. Dort habe ich auch evangelische Predigten gehört, die oft besser waren als die katholischen. Aber dass Ökumene zu einer Überzeugung geworden ist, verdanke ich Berlin.
Mit 23 Jahren bist Du in den Jesuitenorden eingetreten. Wie hat das Dein Leben geprägt?
Ich habe Glück gehabt. Nicht dass ich dauernd glücklich bin, aber ich sehe im Rückblick, dass ich beschenkt worden bin. Ich wollte zum Beispiel nie Lehrer werden. Ich bin ja nicht Jesuit geworden, um Lehrer zu werden, aber es ist ein großes Glück, dass ich Lehrer geworden bin. Durch die Aufgabe, Jugendlichen theologisches Denken nahezubringen, musste ich meine Theologie neu durchdenken. Durch das Lehren habe ich so viel gelernt. Das ist ein Glück.
Du warst über 30 Jahre im Schuldienst tätig. Was war Dir dabei besonders wichtig?
Hören ist für mich noch bedeutsamer als Sehen. Ich bin ein Ohrenmensch. In der Pädagogik ist es für mich besonders wichtig gewesen, jungen Menschen zu helfen, das Hören zu lernen. Dabei spielt die Stille eine große Rolle – also lernen, auch nach Innen zu hören. Welche innere Reaktion löst das, was mein Gegenüber sagt, bei mir aus? Ich spreche erst dann, wenn ich das, was ich gehört habe, nicht nur äußerlich angehört habe, sondern auch meine innere Resonanz darauf gehört habe.
Im Jahr 2010 decktest Du Fälle von sexuellem Missbrauch durch Lehrer des Canisius-Kollegs auf und löstest damit auch in der evangelischen Kirche und der säkularen Welt weitere Aufdeckungen und Präventionsarbeit aus. Wie kam es dazu?
Als die drei ehemaligen Schüler zu mir als Leiter des Canisius-Kollegs gekommen sind, um mir von ihren Missbrauchserfahrungen in ihrer Schulzeit zu erzählen, war ich vorbereitet, sie zu hören. Auch das war ja irgendwie ein Glück. Ich war in den Jahren zuvor immer auf ein Schweigen gestoßen. Warum verstummen immer alle möglichen Leute bei bestimmten Stichworten und verdrehen die Augen oder murmeln irgendetwas? Das hatte mich hellhörig gemacht. Matthias Katsch, einer der drei Männer, hat in seinem Lebensbericht von dem Eindruck erzählt, ich hätte mich gefreut, als er gesprochen hat. Das stimmt auch, weil ich endlich gehört habe, was ich hören wollte.
Im Zuge der Aufarbeitung bist Du auch auf Widerstände in der Katholischen Kirche und im Jesuitenorden gestoßen.
Es ist mir wichtig, dass ich dazugehöre – und das bedeutet auch: mir die Dazugehörigkeit nicht absprechen zu lassen. Es gab Zeiten, da bin ich aus dem Konsens ausgeschert, da gab es die inneren und äußeren Anfechtungen: „Du gehörst jetzt nicht mehr dazu, weil Du Dich anders positionierst.“ Ich suche normalerweise nicht den Streit, aber es gibt Konflikte, denen ich mich nicht entziehen kann und will.
Konflikte sind eine Gelegenheit, Stellung zu beziehen, aber auch Quellen für neue Erkenntnisse. In Konflikten kann man gestalten. Sie schaffen Klarheit, und dann kann man weitergehen.
Anderes Beispiel: In der Coronakrise fand ich es von Anfang an fragwürdig, dass Kitas und Schulen geschlossen wurden. Ich habe mich dann in den Streit hineinbegeben, weil ich dachte: Diese Auseinandersetzung muss geführt werden. Dadurch habe ich neue Perspektiven und neue Themen gewonnen. Heute brennt mir etwa mehr als früher die Frage auf den Nägeln, wie sich wissenschaftliche Expertenberatung und politische Entscheidung zueinander verhalten, nicht nur im Falle einer Pandemie. Das scheint mir ein Schlüsselthema für die Zukunft unserer Demokratie zu sein.
In allen Dingen Gott suchen – das ist ein Kernbegriff der ignatianischen Spiritualität des Jesuitenordens. Was bedeutet das für Dich persönlich?
Auf jede Situation im Leben mit der Frage zugehen: Wo finde ich hier Gott? Mit anderen Worten: Gibt es in dieser oder jener Situation einen Auftrag des Himmels, der sich an mich richtet? Gottesbegegnungen stehen ja nie für sich, sondern aus jeder Gottesbegegnung folgt in den biblischen Geschichten eine Sendung.
Das hat auch etwas mit Liebe zu tun – Liebe gehört ja zu „allen Dingen“ dazu. In manchen Menschen begegnen mir anstrengende Seiten, zum Beispiel Hass. Dann bleibt dennoch die Frage: Wo finde ich hier etwas Liebenswürdiges oder wenigstens einen Auftrag für mich. Und selbst wenn es kein Auftrag gegenüber diesem Menschen ist, so kann in der Begegnung doch eine Botschaft für mich darin sein.
Kommt nicht vor dem Auftrag theologisch die Zusage von Gott geliebt zu sein?
Ich lebe aus dieser Zusage, sie ist für mich selbstverständlich. Es gab auch in meinem Leben Notsituationen, in denen ich gemerkt habe: Jetzt brauche ich diese Zusage. Und dann kam sie auch in einer persönlichen Begegnung. Dann konnte ich sie annehmen und weiter daraus leben. Ich brauche manchmal die Zusage ganz konkret. Der Zusammenhang mit dem Motiv der Sendung bleibt mir aber auch wichtig.