„Wir übernehmen Verantwortung“: Wie die Kirchen sexuellen Missbrauch aufarbeiten

Bei der Aufarbeitung und Anerkennung von sexuellem Missbrauch gehen die katholische und die evangelische Kirche ganz unterschiedlich vor. Ein Gang durch die Institutionen.

Einmal jährlich treffen sich alle Fachkräfte, die in der Nordkirche an der Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt mitarbeiten.
Einmal jährlich treffen sich alle Fachkräfte, die in der Nordkirche an der Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt mitarbeiten.Stabsstelle Prävention Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Nordkirche

„Da ist etwas, da muss ich drüber reden.“ Wenn bei Bettina Gräfin Kerssenbrock das Telefon klingelt, hört sie erst einmal zu. „Ich glaube erst einmal vorbehaltlos, was mir ein Mensch erzählt und stelle das Geschilderte nicht in Frage.“ Sie ist eine von vier Unabhängigen Ansprechpersonen des Erzbistums Hamburg. Im vierten Jahr arbeitet die evangelische Juristin an der Aufarbeitung sexueller Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche mit. Über die Homepage, per E-Mail oder telefonisch können sich Menschen, die als Minderjährige oder Schutz- und hilfebedürftige Erwachsene sexuellen Missbrauch im kirchlichen Kontext erlitten haben, melden und mit ihr oder ihren Kollegen ein Gespräch vereinbaren.

Ähnlich in der Nordkirche. Hier kommen die Meldungen bei den Meldebeauftragten der Kirchenkreise und Hauptbereiche an, oder zentral bei Rainer Kluck in der Stabsstelle Prävention. „Man muss trennen, ob es sich bei der Meldung um eine akute Situation handelt, bei der umgehend reagiert werden muss, um weiteren Schaden abzuwenden und gefährdende Kontakte auszusetzen, oder ob der Missbrauch schon länger her ist“, erklärt der Leiter der Stabsstelle Prävention- Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Nordkirche. Um diese Fälle, die teilweise schon Jahre zurückliegen, aber nie anerkannt wurden, soll es im Folgenden gehen.

Sexueller Missbrauch verjährt nicht

Denn ein Missbrauch, der juristisch verjähren kann, verjährt ideell nicht – weder in der Nordkirche noch im Erzbistum Hamburg. „Viele kommen auch nach 30 Jahren, weil Verdrängtes kochkommt und plötzlich nicht mehr verdrängt werden kann.“, sagt Katharina Seiler, die Geschäftsführerin der Anerkennungskommission der Nordkirche. Diese besteht aus kirchenunabhängigen, aber nicht ausschließlich kirchenfremden Menschen – einer Richterin, Therapeuten, Menschen aus Beratungsstellen, Betroffenen. „Die Kommissionsmitglieder hören den Menschen zu, schenken Gehör und Glauben und übernehmen die institutionelle Verantwortung“, erklärt Seiler die Arbeit der Kommission. Das seien intensive Gespräche – kein Tribunal. Keine Befragung. Keine Formulare. Wer nicht alleine mit der Kommission sprechen möchte und nicht weiß, wen er mitnehmen soll, hat die Möglichkeit, sich von einem Lotsen begleiten zu lassen.

Anders im Erzbistum. „Wir sind völlig unabhängig und das halte ich auch für wichtig“, sagt Kerssenbrock. „Die Betroffenen müssen die Sicherheit haben, dass ihr Gegenüber nicht „im Lager der Kirche“, sondern an ihrer Seite steht.“ Sie und ihrer Kollegen melden nur das weiter, was die Betroffenen auch freigeben. In diesem Gespräch werden nicht nur alle Informationen zur Tat aufgenommen, sondern auch zu weiteren Schritten beraten. „Das sind heftige Gespräche“, so Kerssenbrock. Welches Körperteil hat welches wie lange und wie oft berührt. Das zu wissen ist wichtig. Denn anders als in der Nordkirche hat die katholische Bischofskonferenz die sogenannte Verfahrensordnung zur Anerkennung des Leids und eine Interventionsordnung erarbeitet. „Sie sind Grundlagen zur Anerkennung “, erklärt Kerssenbrock.

Auch wird sich angeschaut, was die Tat bis heute für Folgen hat. Teilweise werden Atteste benötigt. „Wir handeln immer im Sinne der Betroffenen“, so Kerssenbrock. Im Falle einer Straftat muss allerdings die Staatsanwaltschaft informiert werden. „ Die Unabhänige Ansprechperson und das Erzbistum geben ein Votum ab, ob die Meldung plausibel ist. Das Erzbistum prüft zum Beispiel, ob der beschuldigte Mensch wirklich zu dem Zeitpunkt an dem Ort tätig war.“

Ausgleichszahlung für erlittenes Unrecht

Wie in der  Nordkirche wird so vor Ort über die Plausibiltät des Anerkennungsantrags entschieden. Der Antrag geht dann nach Bonn, wo die UKA, die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen, die Höhe der Anerkennungsleistung festsetzt. Sie orientiert sich an den Schmerzensgeldzahlungen staatlicher Gerichte. In der UKA sitzen Richter, Psycho- und Traumatologen und Mediziner. „Das ist ein richtiges Verfahren und ich halte das auch für gerecht“, sagt Kerssenbrock. Bis zu einer Höhe von 50.000 Euro haben alle  Erzbischöfe für ihre Bistümer vereinbart, die Anerkennungsleistungen widerspruchslos zu akzeptieren. „Wenn der Betrag höher ist, kann ein Erzbistum zwar Einspruch erheben. Nach Rückfragen mit den Fachleuten in der UKA ist es dann aber so, dass auch eine höhere Anerkennungsleistung akzeptiert wird.“ Durch die materiellen Leistungen soll gegenüber den Betroffenen zum Ausdruck gebracht werden, dass die deutschen Bistümer Verantwortung für erlittenes Unrecht und Leid übernehmen – auch wenn die Taten im strafrechtlichen Sinne bereits verjährt sind.

„Wir zahlen keine Ausgleichszahlungen für erlittenes Unrecht. Das können wir gar nicht“, sagt sie. „Wir fragen, was können wir tun, das Ihr Leben heute verbessert. Was tut Ihnen jetzt gut?“ Vielleicht die Fortführung einer Therapie, die die Krankenkasse nicht mehr übernimmt, ein Musikinstrument, eine Ausbildung, eine lange Reise mit der Familie. Das seien ideelle Leistungen, die sich von Mensch zu Mensch unterschieden. „Wir wollen die Menschen als Subjekt wahrnehmen, nicht als Objekt eines Verwaltungsverfahrens.“ Denn der Missbrauch selbst ist einer der größten Kontrollverluste, die ein Mensch überhaupt im Leben erleiden kann. „Das sind starke Motive – ich weiß, was gut für mich ist. Sagen die betroffenen Menschen“

Häufig würden sich die Menschen Jahre später melden und erzählen, was aus ihnen durch die Ausbildung oder Therapie geworden sei. „Wir sind nach der Anerkennung nicht irgendwann fertig miteinander.“

EKD will Standards für die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs

Seit dem Jahr 2021 hat sich die Stabstelle von fünf auf zehn Personen verdoppelt. „Es ist der politische Wille dieser Kirche und der Kirchenleitung, dass wir das Thema Missbrauch und Aufarbeitung in den Blick nehmen,“ sagt Katharina Seiler.

Anders als in der katholischen Kirche, findet die Anerkennung in der evangelischen Kirche nicht EKD weit statt, sondern innerhalb der jeweiligen Landeskirchen. Doch auch bundesweit tut sich was. So wurde Mitte Dezember eine gemeinsame Erklärung über eine unabhängige Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie nach verbindlichen Kriterien und Standards verabschiedet. Sie soll die Aufarbeitung transparenter und vergleichbarer machen, bei größeren Geschehnissen mitarbeiten und Betroffene stärker beteiligt beteiligen.

Weitere Informationen zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Hamburg sowie der Kontakt zu den Unabhängigen Ansprechpersonen hier.

Weitere Informationen zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Nordkirche sowie der Kontakt zur Aufarbeitungskommission gibt es hier.