Hornhaut auf der Seele

Der Leiter der Berliner Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo, Dieter Puhl, ist zum „Berliner des Jahres“ gekürt worden. Der 61-Jährige arbeitet seit 25 Jahren mit Obdachlosen in Berlin, seit 2009 leitet er die Bahnhofsmission Zoologischer Garten. Laurence Donath (16) hat mit ihm über seine Arbeit und das Helfen gesprochen – und darüber, was ihm Sorge bereitet.

Einer aktuellen Studie des Deutschen Jugendinstituts zufolge sind in Deutschland etwa 37000 junge Menschen ohne festen Wohnsitz, leben auf der Straße oder mal hier, mal da. Dieter Puhl (61) arbeitet seit 25 Jahren mit Obdachlosen in Berlin, seit 2009 leitet er die Bahnhofsmission Zoologischer Garten. Laurence Donath (16) hat mit ihm über seine Arbeit und das Helfen gesprochen – und darüber, was ihm aktuell Sorge bereitet.

Herr Puhl, in Ihrem kürzlich erschienenen Buch beschreiben Sie Ihren sehr anstrengenden und intensiven Arbeitsalltag. Gibt es auch mal ruhige Minuten? Ich habe mir ein Jahresticket für den Zoologischen Garten geholt. Wenn ich jetzt in den Zoo gehe, findet man mich bei den Andenhühnern. Aber mal ernsthaft: Es ist hier in der Bahnhofsmission nicht immer hektisch. Das Schöne ist, dass ich das Belastende gar nicht sehe, sondern genau das als Gestaltungsfreiheit. empfinde. Ich habe aber auch eine sehr gute Seelenhygiene: Ich mache sehr häufig Urlaub auf Kreta. Da lasse ich die Arbeit dann auch zu Hause und kann komplett abschalten.

Viele Leute denken, dass obdachlose Menschen sich mal nicht so haben sollen und selber für ihre Lage verantwortlich sind. Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören und was würden Sie diesen Leuten entgegnen? Bevor ich diesen Menschen etwas entgegne, höre ich ihnen lieber zu, um zu verstehen, warum sie so etwas sagen. Eine Krankheit unserer Zeit ist, dass wir kaum noch zuhören, geschweige denn den anderen aussprechen lassen. Dadurch geht uns auch das Verständnis für Aussagen des anderen verloren. Ich arbeite in dem Bereich seit 25 Jahren und ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die uns unterstützen. Ich weiß aber auch, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegen Obdachlose ist, und diese Mehrheit verschafft sich auch politisch immer mehr Gehör. Das ist eine Entwicklung, die mir Sorge bereitet. Viele Leute sprechen von Asyltourismus. Dazu habe ich auf Facebook geschrieben: „Der Teufel lacht sich ins Fäustchen: Im Mittelmeer ersaufen Menschen und führende deutsche Politiker, selbst europaweit, reden von Asyltourismus. Das ist böse und in der Boshaftigkeit kaum zu überbieten.“ Wohlgemerkt: Mit dem Teufel argumentiere ich so gut wie nie. 85 Prozent denken so, wie in der Frage angesprochen, die anderen 15 Prozent kommen dann hierher und fangen an, etwas zu verändern.

Meinen Sie nicht, dass diese 85 Prozent einmal mit wirklichen Schicksalen konfrontiert werden sollten, bevor sie sich ihre Meinung bilden? Dazu erzähle ich mal eine kleine Geschichte: Es ist jetzt ungefähr drei Jahre her, da überzeugte eine ehrenamtliche Mitarbeiterin einen Mann, der sich sehr sträubte, sich einmal die Bahnhofsmission anzuschauen. Ich fand ihn von der ersten Sekunde an sympathisch. Wir sprachen lange und viel miteinander und umarmten uns, als wir uns trennten, und ich erkannte: Der ist sicher ein toller Netzwerker. Ich bat ihn, Rucksäcke für uns zu besorgen.

Und was passierte dann?Um 0.30 Uhr schrieb er mich an: „Dieter, das alles weht nach. Bist du dir sicher, dass du mich als Netzwerker gewinnen willst?“ Ich googelte seinen Namen und es stellte sich heraus, er ist der Bundesvorsitzende einer Partei, mit der ich echt nichts zu tun haben möchte. Ich habe aber in dem Moment auch gespürt, das ich ihn mag. Und genau das hat mir totale Schwierigkeiten bereitet. Nein, seine Netzwerke wollte ich nicht aktivieren. Ich schrieb ihm: „Mein lieber …, ich habe deinen Schwefelgeruch nicht wahrgenommen. Es ist richtig. Ich möchte dich nicht als Netzwerker gewinnen, aber wenn du alleine mit zehn Rucksäcken privat herkommst, dann werden wir einen Kaffee gemeinsam miteinander trinken. Du bist herzlich willkommen.“ Jesus hätte ihn zu einem Jünger gemacht! Ich aber bin glücklich, wenn am Ende des Tages ein linksradikaler Mitarbeiter, der Sozialstunden absolvieren muss, und ein Rechtsradikaler, der ebenfalls Sozialstunden machen muss, zusammen nach Feierabend ein Bier trinken gehen und in den Austausch kommen.

Ist es die Pflicht eines jeden, dem anderen zu helfen? Dazu zitiere ich einen guten Freund und Unterstützer der Bahnhofsmission: „Es muss freiwillig passieren.“ Du musst gar nichts. Wenn es nicht freiwillig passiert, ist es nicht durch Liebe gemacht. Aber du darfst die Erfahrung machen, dass es dir selbst beim Helfen total gutgeht. Und du darfst die Erfahrung machen, dass es dir besser geht, wenn du zwei Argumente für das Helfen findest, und dass es dich doch eher enger macht, wenn du ständig nach zehn Argumente gegen das Helfen suchst.

Die Bahnhofsmission gilt als Auffangbecken für diejenigen, bei denen es im Moment einfach nicht so läuft oder die in Schwierigkeiten stecken. Macht das was mit einem selber? Gelegentlich ja, und gelegentlich wird das sehr schwer. Für mich kann ich sagen, dass ich auf meiner Seele auch genügend Hornhaut habe, um sagen zu können: Jetzt ist Feierabend und ich gehe nach Hause. Wenn ich das nicht hätte, würde ich wahrscheinlich seit zehn Jahren aufgrund von Burn-out zu Hause sitzen. Ich möchte leben, und dazu gehört, fleißig und engagiert zu arbeiten, aber auch meiner Lebensfreude Ausdruck zu verleihen. Ich bin tatsächlich jeden Morgen ergriffen, mit welchem paradiesischen Leben der liebe Gott mich beschenkt hat.

Dieter Puhl, Glück und Leid am Bahnhof Zoo. Ein Leben für die Bahnhofsmission, Kreuz Verlag, Hamburg 2018, 135 Seiten, 15 Euro