62 Jahre nach der Sturmflut in Hamburg: „Flutopfer nicht vergessen“

62 Jahre nach der Sturmflut 1962 treffen sich Zeitzeugen aus dem Süden Hamburgs. Detlef Baade und Johannes Tönnies lebten nahe der Elbe, als am 16. Februar 1962 die Dämme brachen.

Zeitzeuge Johannes Tönnies (links) mit Bildern aus seinem neuesten Buch, das er über die Sturmflut geschrieben hat
Zeitzeuge Johannes Tönnies (links) mit Bildern aus seinem neuesten Buch, das er über die Sturmflut geschrieben hatepd-bild/ Evelyn Sander

Als sein Vater nachts ins Kinderzimmer kam, stand das Wasser schon bis zu den Knien. „Oben in der Küche saßen wir dann auf den Tischen, meine Eltern hatten Kerzen angezündet. Es fühlte sich zuerst an wie ein Abenteuer“, erinnert sich Detlef Baade, der als Siebenjähriger die Hamburger Sturmflutkatastrophe in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 erlebte. Er hatte Glück, das Haus seiner Eltern im Stadtteil Waltershof lag etwas höher, auch Nachbarn kamen bei ihnen unter. An die Zeit vor und nach der Katastrophe wird sich Baade am Samstag (17. Februar) mit ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern aus Waltershof und Dradenau im Hamburger Seemannsclub Duckdalben erinnern.

Auch bei Johannes Tönnies kommen in diesen Tagen die Bilder wieder hoch. Zwar blieb die Wohnung des damals 23-Jährigen und seiner Frau in Markenwerder trocken, doch in der Nacht kam sein Vater angerannt: „Er schrie: Oma und Opa saufen ab.“ Das eiskalte Wasser reichte dem jungen Mann bis zum Bauch als er sich zum Haus seiner Großeltern vorkämpfte und sie nacheinander Huckepack ins Trockene brachte. Seine Oma überlebte, sein Opa nicht. „Er starb später im Krankenhaus an Unterkühlung.“

Orkan „Vincinette“ mit bis zu 150 Kilometern pro Stunde

Als der Orkan „Vincinette“ am 16. Februar mit bis zu 150 Kilometern pro Stunde über Norddeutschland fegte, drückte er gigantische Wassermassen in Elbe und Weser. Gegen Mitternacht schwappte das Wasser erstmals über die Deiche in Moorfleet, Moorburg, Finkenwerder und Wilhelmsburg. Ein Deich nach dem anderen brach. Die Fluten zerstörten Häuser, entwurzelten Bäume, schoben Autos wie Spielzeug ineinander. Tausende Freiwillige, Bundeswehrsoldaten und Nato-Kräfte retteten die Bevölkerung aus dem Gebiet im Hamburger Süden. 340 Menschen starben bei der Sturmflut, 315 allein in Hamburg.

Durch die Sturmflut überflutete Straße am 18.02.1962 in der Hamburger Innenstadt
Durch die Sturmflut überflutete Straße am 18.02.1962 in der Hamburger Innenstadtepd-bild/ akg-images

Auf der Elbinsel Waltershof mit damals 4.096 Einwohnern kamen 43 Menschen ums Leben. „Ich kannte sie alle“, sagt Tönnies, der damals als Postausträger gearbeitet hat. Auch 62 Jahre nach der Flut fällt es ihm schwer, darüber zu sprechen: Wie ein Junge vergeblich nach seiner Schwester suchte, die noch ein Baby war, wie er Eilbriefe an obdachlos gewordene Überlebende verteilte und wie er angeseilt zu einer Frau schwamm und sie von einem Dach rettete.

Leichen, tote Tiere und nach ein paar Tagen kamen die Ratten

Auch für den siebenjährigen Detlef Baade war am Morgen des 17. Februar die Welt „nicht mehr so, wie sie mal war“. Er sah Leichen, tote Tiere und nach ein paar Tagen kamen die Ratten. Er brachte Milchtüten vom Hubschrauber zur Ausgabestelle an seiner Schule und verteilte Decken. „Die Not hat alle zusammengeschweißt“, erinnert sich der 69-Jährige. Jeder habe jemanden gesucht, mitgeholfen und versucht, Dinge zu retten – Möbel, Papiere, Bücher oder wie bei Baade seine Lieblingseisenbahn: „Nach ein paar Tagen war sie leider total verrostet.“

Johannes Tönnies hat noch ein paar gerettete Bücher im Keller. „Sie riechen immer noch nach der Flut“, sagt er. Nach der Katastrophe veränderte sich die einst so idyllische Elbinsel mit Obstgärten und Bauernhäusern komplett. Viele Bewohner wurden umgesiedelt, Schule und Kirche abgerissen. Es folgte der Bau von Containerterminals, der Köhlbrandbrücke und des A7-Elbtunnels. Waltershof wurde zum reinen Hafengebiet.

Jährliches Treffen der Traditionsgemeinschaft Flutopfer

Tönnies zog mit seiner Familie in den Westen Hamburgs, doch seine alte Heimat ließ ihn nicht los. Bei offiziellen Flut-Gedenkfeiern störte ihn, dass Waltershof nicht vorkam. „Der vergessene Stadtteil“, hieß deshalb das erste Buch, das er über die Sturmflut schrieb. Seit 2012 organisieren die beiden Freunde Tönnies und Baade das jährliche Treffen der Traditionsgemeinschaft Flutopfer. Für die Toten aus Waltershof wurde durch Spenden ein Gedenkstein an der Seemannsmission Duckdalben aufgestellt. 2023 hat Tönnies sein viertes Heimat-Buch mit 144 Seiten und rund 100 alten Fotos abgeschlossen. „Ich möchte, dass die Geschichte nicht vergessen wird“, sagt der 85-Jährige.

Angesichts des Klimawandels fürchtet Baade heute wie gestern den „Blanken Hans“, wie die tobende Nordsee bei Sturmfluten genannt wird. Bei jeder angekündigten Hamburger Sturmflut habe er ein ungutes Gefühl: „Ich schaue immer auf die Elbe und hoffe, die Deiche halten.“ Obwohl die Deiche verbessert wurden, könne es Naturkatastrophen jederzeit geben. „Nichts ist unmöglich“, sagt der 69-Jährige, der heute in Harburg wohnt. 52 Meter über dem Meeresspiegel. Das weiß er genau.