Gefängnisseelsorgerin: “Mir fällt es auch nicht immer leicht zu vergeben”

Wie groß ist unsere Bereitschaft zu vergeben wirklich – als Einzelperson, als Gesellschaft, als Kirche? Eine Gefängnisseelsorgerin teilt ihre Gedanken.

Da wo unsere Gastautorin Christina Ostrick arbeitet – hinter Gittern – ist Vergebung ein besonderes Thema
Da wo unsere Gastautorin Christina Ostrick arbeitet – hinter Gittern – ist Vergebung ein besonderes ThemaUwe Baumann

Seit sechs Jahren gibt es einen Internationalen Tag der Vergebung. An dem Tag ist die Frage berechtigt: Wie vergebungsbereit sind wir?

Aus meiner Perspektive als Gefängnisseelsorgerin befürchte ich, dass wir es vielleicht theoretisch wissen – aber es mit der Praxis hapert. Als Pfarrerin predige ich, dass wir einander vergeben sollen. Und bekomme dann zu hören, dass es ja grundsätzlich richtig sei –, aber dass man Ronny einfach nicht vergeben könne. Das, was diese Person gemacht habe, sei schlicht nicht vergebbar.

Ich gestehe: Mir fällt es auch nicht immer leicht zu vergeben. Je stärker der Grad meiner persönlichen Betroffenheit, desto schwerer fällt es mir. Vergeben zu können braucht Zeit. Ich muss – bildlich gesprochen – erst meine Wunden lecken. Muss die Empörung: „Wie kann Ronny mir das antun?“ hinter mir lassen. Und wieder zu mir finden, zu meinem Innersten, statt „im Außen“ zu bleiben – in der Empörung.

Kein Mensch ist nur gut

Gibt es das: Taten, die nicht zu vergeben sind? Gefühlt vielleicht. Aber wenn wir unseren Glauben ernst nehmen, dann heißt die Antwort ganz klar: Es gibt nichts, was nicht vergebbar wäre. Oder pointiert gesagt: Wenn wir etwas nicht vergeben können, könnte es sein, dass nicht die Täter*in sich ändern muss, sondern wir uns; also die Person, die nicht vergeben kann. Denn kein Mensch ist nur gut! Ohne Vergebung kann die Gesellschaft nicht existieren. Sie „hinkt“ dann.

Nach einer entsprechenden Zeit der Buße kann – und sollte – alles vergeben werden. Im eigenen Interesse und auch, um unser Rechtssystem ernst zu nehmen. Ganz zu schweigen von den Glaubensgründen. Denn gemäß unseres Rechtssystems ist nach dem Verbüßen der Strafe der Rechtsfrieden wiederhergestellt! Spätestens, wenn sich das Tor in die Freiheit öffnet, schulden wir den Ronnys, dass wir sie wieder in die Gesellschaft aufnehmen.

Ansonsten konterkarieren wir die Regeln, auf denen unser Zusammenleben basiert. Die Tat sollte dann keine Rolle mehr spielen. Wir sollten, nein: Wir dürfen nicht weiter bestrafen – indem wir an Ronnys Vergangenheit als Täter festhalten. Viele machen das selbst genug; sie brauchen uns nicht dazu.

Vergib uns unsere Schuld

Unser Ronny braucht Menschen, die ernst machen mit der Idee, dass nach dem Vollzug der Strafe Leben wieder möglich ist. Ronny braucht gläubige Menschen, die nicht nur beten: Vergib uns unsere Schuld –wie auch wir vergeben unseren Schuldigern –, sondern sich täglich neu auf den Weg machen, danach zu leben. Etwas zu vergeben heißt nicht, eine Tat zu vergessen. Es heißt nicht, so zu tun, als seien die Tat und auch die Folgen aus der Tat nicht real.

Aber jemandem zu vergeben heißt, dass ich die Blickrichtung gewechselt habe: Dass ich einen Schlussstrich gezogen habe und nicht mehr aus dieser Vergangenheit lebe – und auch mein Gegenüber aus der Vergangenheit entlasse. Dass ich Zukunft zulasse. Ja, jemandem zu vergeben heißt auch: etwas zulassen. Das ist mit einem Risiko behaftet – wie alles im Leben. Bleibt es bei Sonntagspredigten? Bleibt es dabei, dass wir an einem Tag im Jahr bedenken, dass Vergebung wichtig ist? Oder sind wir vergebungsbereit?

Christina Ostrick ist Pfarrerin und Gefängnisseelsorgerin in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel