Freier Rausch? Die geplante Cannabis-Legalisierung ist umstritten

Gesundheitsschutz oder Klientelpolitik? Die Bundesregierung erhofft sich eine Wende der Drogenpolitik. Doch viele Fragen bleiben bei dem geplanten Gesetzgebungsvorhaben offen.

Der Kernpunkt der Reform: Jeder Erwachsene darf künftig 25 Gramm Cannabis besitzen. Um den Schwarzmarkt einzuschränken, setzt die Regelung auf Eigenanbau
Der Kernpunkt der Reform: Jeder Erwachsene darf künftig 25 Gramm Cannabis besitzen. Um den Schwarzmarkt einzuschränken, setzt die Regelung auf EigenanbauImago / Christian Ohde

„Genuss“, „Gewöhnung“, „riskanter Konsum“. Mit bunten Karten zur Selbsteinschätzung versucht Christin Wilke behutsam, eine Schülerin zur realistischen Selbsteinschätzung zu führen: Was macht die Droge mit mir, mit meinem Körper, meiner Psyche, meinem Leben?

Seit 2010 arbeitet die 39-Jährige bei der integrativen Suchtberatung der Caritas Berlin Mitte. „Die Konsummuster haben sich verändert“, meint Wilke. „Der Einstieg erfolgt früh: Alkohol, Cannabis, Medikament, Ecstasy, Kokain, Partydrogen, derzeit verstärkt der Angstblocker Xanax“.

Nichts erinnert hier an „Christiane F.“ vom Bahnhof Zoo

Ihr Beratungsraum liegt im Hinterhof an der Großen Hamburger Straße, gegenüber dem Jüdischen Moses-Mendelssohn-Gymnasium. Der Blick durchs Fenster geht ins Grüne, wo Suchtpatienten des betreuten Wohnens gerade eine Feier vorbereiten. Nichts erinnert hier an „Christiane F.“ vom Bahnhof Zoo – außer der Not der Ratsuchenden. Buch und Film nach Tonbandprotokollen einer 15-Jährigen erregten in den 1980ern die Gemüter.

Seitdem hat sich viel verändert. Drogen sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Derzeit tobt die Debatte um die geplante Freigabe von Cannabis „an Erwachsene zu Genusszwecken“, wie es im Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums heißt.

Bundesminister für Gesundheit  Lauterbach und Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Özdemir  auf der Bundespressekonferenz zu den Cannabis-Gesetzesplänen der Bundesregierung (23.04.2023)
Bundesminister für Gesundheit Lauterbach und Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Özdemir auf der Bundespressekonferenz zu den Cannabis-Gesetzesplänen der Bundesregierung (23.04.2023)Imago / Bernd Elmenthaler

Als Suchtmittel ist Cannabis nach Alkohol und Nikotin weltweit am weitesten verbreitet. Die Blüte der weiblichen Hanfpflanze wird als Marihuana, der Harz als Haschisch vertrieben. Entscheidend ist der sogenannte THC-Gehalt. Er sorgt für den Rausch.

„In Berlin ist Cannabis omnipräsent“

„In Berlin ist Cannabis omnipräsent“, meint Wilke. Geht man samstagabends durch Friedrichshain oder den Prenzlauer Berg, liegt süßlicher Duft in der Luft. Der Erwerb ist nicht schwierig, ob im Görlitzer Park oder übers Internet frei Haus. „Das geht quer durch alle Gesellschaftsschichten.“

„Legalize it – Don’t criticize it“, sang Peter Tosh 1976 in leicht bekifftem Reggae-Sound. Für viele Grüne gehört das „Kiffen“ zum Lebensgefühl. Agrarminister Cem Özdemir ließ sich 2014 schon mal mit einer Hanfpflanze ablichten. Der FDP gehe es eher um den freien Rausch für freie Bürger. Die Ampelkoalition will dies nun umsetzen – zumindest teilweise.

Lauterbach: Kontrollierte Legalisierung soll „Wende“ bringen

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begründet das Vorhaben allerdings eher umgekehrt: Die bisherige Drogenpolitik ist gescheitert, deshalb soll eine kontrollierte Legalisierung die „Wende“ bringen, durch mehr Gesundheitsschutz, Aufklärung und Prävention sowie einen besseren Kinder- und Jugendschutz.

Der Kernpunkt der Reform: Jeder Erwachsene darf künftig 25 Gramm Cannabis besitzen. Um den Schwarzmarkt einzuschränken, setzt die Regelung auf Eigenanbau. Jeder Erwachsene kann sich also Cannabis selbst züchten, mit drei Pflanzen auf der heimischen Fensterbank oder im „Cannabis Social Club“. Anbauvereinigungen mit höchstens 500 Mitgliedern dürfen dann maximal 50 Gramm Cannabis pro Monat an Mitglieder abgeben. Das reicht für rund fünf Joints pro Tag; für den THC-Gehalt ist keine Grenze festgelegt.

Der erste Joint in der Hip-Hop-Szene

Nach der Studie „Cannabis: Potenziale und Risiken“ des Drogenbeauftragten der Bundesregierung von 2018 entwickeln neun Prozent aller Cannabis-Konsumenten eine Abhängigkeit. Beginnt der Konsum in der Jugend, steigt diese Quote auf 17 Prozent. Wird Cannabis täglich gebraucht, steigt sie auf 25 bis 50 Prozent.

Für Claudia K. sind 50 Gramm „eine ganze Menge“. Die 38-Jährige weiß, wovon sie spricht. Sie hat als Jugendliche in der Hip-Hop-Szene ihre ersten Joints geraucht. „Es war bewusstseinserweiternd, kreativ. Ich konnte meine Gefühle besser steuern. Und die Seele gewöhnte sich an den Stressabbau.“

Cannabis als Belohnung

Der Joint wurde zum „Belohnungsritual“, während die Wirklichkeit entglitt, vom verpassten Abi bis zu Spannungen mit den Eltern. „Der Schocker war, als ich eine Psychose bekam, mit verstörenden Beziehungsideen, wie alles zusammenhängen könnte.“ Aber selbst in der Psychiatrie diskutierte sie noch mit Ärzten über andere Ursachen als die Droge; ihre Psyche geriet weiter aus dem Gleichgewicht „mit Depressionen und Manien“. Die Einsicht „hat echt gedauert“, sagt K. rückblickend. Der Grund: „Ich habe mich an anderen gemessen, die keine Symptome hatten.“

Einschlägige Studien führen eine ganze Reihe von Risiken für Erkrankungen auf: affektive Störungen, Psychosen und Angststörungen. Wegen dieser Gefahren will Lauterbach für Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren nur 30 Gramm pro Monat erlauben, mit begrenztem THC-Gehalt.

Bundesärztekammerpräsident gegen Teillegalisierung

Experten verweisen indes darauf, dass der Konsum je nach Dauer bei unter 25-Jährigen die neuronalen Verknüpfungen im Gehirn dauerhaft verändern kann. Die Folge: eine geringere Intelligenz und ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Sie verlangen deshalb eine Freigabe erst ab 25 Jahren. Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt und die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin sind hingegen gegen jegliche Teillegalisierung.

Experten verweisen indes darauf, dass der Konsum je nach Dauer bei unter 25-Jährigen die neuronalen Verknüpfungen im Gehirn dauerhaft verändern kann
Experten verweisen indes darauf, dass der Konsum je nach Dauer bei unter 25-Jährigen die neuronalen Verknüpfungen im Gehirn dauerhaft verändern kannImago / Imagebroker

Bei Michael S. verlief es zunächst glimpflich. Der 25-jährige Student aus dem ländlichen Raum in Niedersachsen griff mit 16 Jahren im Bekanntenkreis zu Cannabis: „Weil ich dazugehören wollte“, erinnert er sich. „Zu dieser Zeit war es eine coole Erfahrung: Viele bunte Farben, es war alles ziemlich verrückt, überwältigend. Ich habe mich auch übergeben; aber es war ok – völlig losgelöst.“ Als er merkte, dass er vergesslich und desorientiert wurde, machte S. Schluss.

Der „Absturz“ kam später, mit 18 und einer Ecstasy-Tablette: „Ab dem Zeitpunkt war ich abhängig“. Der Ektase folgte die Depression. Cannabis nahm er unter Woche, um den Entzug zu überbrücken. Dann ging es „schleichend bergab“ in die Beschaffungskriminalität. Zurück blieben die Freundin, die Familie, das Handballspielen, die Gitarre.

Nachdem er von Drogen losgekommen ist, hat Michael S. heute Sympathien für das Regierungsvorhaben, sofern es Jugendliche vor schlechtem, schädlichem Stoff schützt, wie er auf dem Schwarzmarkt angeboten wird. „Konsumiert wird ohnehin“, so sein Argument.

Schwarzmarkt wird weiterbestehen

Hier zeigt sich allerdings ein Dilemma. Eine Legalisierung für Minderjährige ist ausgeschlossen, und bei einer Teillegalisierung wird der Schwarzmarkt weiterbestehen, nicht zuletzt über Dumpingpreise. Die Polizei-Gewerkschaft GdP stellt deshalb nüchtern fest, dass das Vorhaben keinen „bedeutenden Einfluss“ auf den Schwarzmarkt haben werde. Und GdP-Vize Alexander Poitz erwartet auch keine „nennenswerte Arbeitsentlastung“.

Große Einigkeit besteht hingegen bei der Notwendigkeit, die Prävention auszubauen. Lauterbach verspricht eine eigene Kampagne. Caritasberaterin Wilke verlangt zugleich mehr Stellen, etwa für den wachsenden Bedarf in der Online-Beratung.

„Welches Signal geben wir den Jugendlichen?“

Bei der Frage nach der Legalisierung huscht ihr ein ungläubiges Lächeln über die Lippen: „Welches Signal geben wir den Jugendlichen?“, fragt sie. Die Gesetzgebung hat auch Vorbildfunktion. Ein Begriff, der in der Diskussion kaum zu hören ist – obwohl sich vom Minister bis zum Kanzler jeder der Frage stellen muss, ob er selbst schon mal gekifft hat.

Der Polizeigewerkschaftler sieht „mehr Klientelpolitik als einen signifikanten Fortschritt mit Blick auf eine verbesserte Drogenprävention“ in dem Gesetzgebungsvorhaben. Wie heißt es noch bei Peter Tosh: „Legalize it and I will advertise it…“ Aber soweit soll es dann doch nicht kommen. Werbung für Cannabis soll verboten bleiben.