Frankreich und Belgien – So verwandt und doch so verschieden

Das EM-Achtelfinale Frankreich gegen Belgien ist auch ein kultureller Kracher. So viele Gemeinsamkeiten, so viele Verschrobenheiten haben diese beiden ungleichen Schwestern, dass es Laune macht.

Ist es denn ein Zufall, dass Belgiens angestammter Nationalkeeper Thibaut Courtois dem jungen General Charles de Gaulle (1890-1970) so frappierend ähnlich sieht? Schließlich stammte der Held des “Freien Frankreich” mit seinen damals unglaublichen 1,95 Metern aus Lille, einer Quasi-Grenzstadt zum kleinen Nachbarn Belgien.

Die Region Hauts-de-France ganz im Norden ist eine Art Schnittmenge zwischen den beiden WM-Halbfinalisten: Hier sind die Kathedralen richtig grau; man trinkt Bier statt Wein, isst belgische Muscheln mit Pommes (amerikanisch “french fries”!) und spricht Sch’ti statt richtigem Französisch…

Frankreich und Belgien, “La Grande Nation” und ihre vermeintlich hässliche kleine Schwester: Das ist eine Geschichte voller Klischees und Halbwahrheiten. Am Montag (1. Juli) treffen die beiden in Düsseldorf zum Shoot-Out aufeinander; der Weltmeister von 1998 und 2018 sowie Europameister von 1984 und 2000 gegen den EM-Zweiten 1980, Olympiasieger 1920 und ewigen Geheimfavoriten.

Auf dem Platz stehen viele Nachkommen von Einwanderern, oft aus den einstigen Kolonien der beiden Länder. Auch Frankreichs vielleicht größter Star als Spieler und Trainer aller Zeiten, Zinedine Zidane, ist ein Sohn algerischer Immigranten. Frankreich nannte einst den Maghreb, ein Drittel des subsaharischen Afrika sowie weitere weltweit verstreute Territorien sein eigen. Bei Belgien waren es vor allem das Riesenland Kongo, das König Leopold II. (1865-1909) als seinen Privatbesitz ausplündern ließ, sowie Ruanda und Burundi.

Auch das haben übrigens die beiden Kontrahenten gemeinsam: ein weitgehend ungebrochenes Verhältnis zu ihrer jüngeren Geschichte. Belgiens blutige Kongo-Politik und Napoleons verlustreiche Eroberungskriege in Europa werden angesichts noch größerer Verbrechen anderer Nationen im 19. bis 21. Jahrhundert beiseitegeschoben.

Und beide Länder teilen sich nicht nur eine traditionelle Liebe zu Pasteten, Pralinen und Schokolade, sondern seit dem 19. Jahrhundert auch wichtige Rohstoffe. Mit dem brutal gewonnenen Kautschuk aus Belgisch-Kongo konnten die französischen Brüder Andre und Edouard Michelin einen Weltkonzern für Gummireifen (mit einem lustigen Logo) schaffen. Und nur mit dem Zinkspat (Galmei) aus dem heute belgischen Moresnet konnten die kilometerlangen Dächer der modernen Pariser Haussmann-Boulevards gedeckt werden.

Überhaupt: Paris! Was wäre Paris ohne die Seine? Ohne die Quais zum Flanieren; die Ausflugsschiffe, die an Notre Dame vorbeischippern? Und was wäre Brüssel ohne die Senne? – Ganz recht. Auch Belgiens oft verspottete Hauptstadt hat einen Fluss; nur ist er unsichtbar, überbaut. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Senne (flämisch Zenne) eine Kloake der Industrialisierung. Im Sommer reichte das Wasser nicht, um Unrat und Schadstoffe abzutransportieren. Gestank und Seuchen waren die Folge. Die Kanalisierung und Überbauung eröffnete neue Perspektiven für große Boulevards im Pariser Haussmann-Stil. Und das Brüsseler Atomium? Doch nur eine kleine Schwester des Eiffelturms, oder…?

Jije, Rob-Vel, Peyo, Herge, Roba: Erkennen Sie die Melodie? Das ist Belgisch; die Sprache der Comic-Kunst. Die Schöpfungen dieser Zeichner – die Schlümpfe, Tim und Struppi, Lucky Luke, Spirou und Fantasio, Gaston, Johann und Pfiffikus, das Marsupilami – sie alle sind gebürtige Belgier. Aber auch die Franzosen sind bei den Comics weit vorn: Goscinny und Uderzo haben Asterix und Obelix in die Welt gesetzt; und Tabary den bösen Großwesir Isnogud, der so unbedingt “Kalif werden will anstelle des Kalifen”.

Ohne die Erfahrungen in der belgischen Bergbauregion Borinage hätte der Niederländer Vincent van Gogh nicht in Frankreich seine genialen Werke schaffen können. Und vielleicht mögen sich Frankreich und Belgien die Chansonniers Jacques Brel und Stromae teilen. Vielleicht auch die Erscheinungen der Gottesmutter Maria – die einen in Lourdes und La Salette, die anderen in Banneux und Beauraing. Aber ganz sicher teilen sie sich nicht den EM-Pokal.