Familiengeschichte in Puzzlestücken

Ahnenforschung liegt im Trend – das zeigt auch das wachsende Interesse an Kirchenbüchern. Viele sind auf Mikrofiches verfilmt und können in Superintendenturen oder Gemeindebüros genutzt werden

Von Uli Schulte Döinghaus

Die Nachforschungen von Wolfgang Köhn begannen damit, dass seine Frau nach ihrer leiblichen Mutter suchte. Das gestaltete sich gegen Ende der DDR sehr schwierig. „Dann, während der Monate der Friedlichen Revolution, war das leichter“, sagt Köhn. „Unsere Suche war erfolgreich.“ Die Mutter seiner Frau, eines Adoptivkinds, lebte zunächst in der Nähe von Oppeln – heute Polen –, später in Erkner bei Berlin, wo es zu einer kurzen Begegnung kam.  

Hunderte von Mikrofiches

Wolfgang Köhn, 65-jähriger Lehrer für Mathematik, Physik und Evan­gelische Religion am Gymnasium Ludwigslust, war lange Jahre auch Schulleiter an mecklenburgischen Schulen, promovierte im Fach Erziehungswissenschaften an der Universität Münster. Während er davon erzählt und darüber, wie seine Lust auf Familienforschung begann, blättern seine Finger durch Hunderte von Mikrofiches, die in einem Karteikasten aufbewahrt sind. Was sie dokumentieren, geht meist bis ins 17. Jahrhundert zurück. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1616–1648) wurde es üblich, Kirchenbücher systematisch zu führen, so auch in der Prignitz rund um Perleberg.

Die dünnen, fast schwarzen handtellergroßen Folien sind miniaturisierte Fotografien von Kirchenbüchern aus der Prignitz. Sie werden im Schatten der wuchtigen St.-Jacobi-Kirche aufbewahrt, genauer: in der Superintendentur des Kirchenkreises in Perleberg. Dort können die Fiches (frz.: Blätter) mit Hilfe eines Lesegerätes vergrößert und von jedermann gelesen, fotografiert oder ausgedruckt werden. Mit ihrer Hilfe komplettiert Wolfgang Köhn den Stammbaum der eigenen Familie, legt aber auch Ortsfamilienbücher von Dorfgemeinschaften bei Karstädt an der mecklenburgischen Grenze an.  

Das Handwerkszeug aller Ahnenforscher

Wen seine Familiengeschichte interessiert, wer irgendwo im Nordwesten der Landeskirche seinen Stammbaum vermutet und wer sich auf die Suche nach seinen Wurzeln begibt, der ist im Besucherzimmer der Superintendentur in Perleberg willkommen. Der raumgreifend lange Besprechungstisch ist praktisch,wie die Arbeitsweise des Familienforschers Köhn zeigt. Rasch ist die Arbeitsplatte mit Notizen, Nachschlagewerken, Dokumenten, Archivalien und Ausdrucken belegt, dem Handwerkszeug aller Rechercheure. Sie belegen, dass Köhn seit zehn Jahren schon zahlreiche Kirchen­gemeinden in der Westprignitz besucht hat, um zu recherchieren, auch in Karstädt und in Blüthen. Dort sind Originale jener Kirchen­bücher aufbewahrt, die man in verfilmter Form in der Superintendentur in Perleberg einsehen und nutzen kann. 

Köhns wichtigste Werkzeuge sind Neugier und Leidenschaft, um in Stammbäumen den Verästelungen des Lebens nachzuspüren, die aus Hunderten und Aberhunderten Biografien zusammengesetzt sind. Davon lassen sich hier in Perleberg zwei oder drei Besucher im Monat anspornen. Sie wollen wissen, was es mit all ihren Ururururgroßeltern auf sich hatte. Oder wie es die Vorfahren mal in diesen Flecken der Prignitz verschlug, mal in jene Kirchen­gemeinde. Und ob man vielleicht der Familie Stellmacher (Name geändert) weiterhelfen kann, deren Vorfahren vor 150 Jahren aus der Prignitz nach Amerika auswanderten. Wer waren sie? Wo lebten sie und wovon? Wer wurde in ihrer Mitte getauft, konfirmiert, verheiratet, beerdigt?

Viele solcher Geschichten kennt Rilana Gericke, die Pressesprecherin und Öffentlichkeitsbeauftragte des Kirchenkreises, die sich selbst auch immer wieder in Kirchenbücher aus Gemeinden der nördlichen Prignitz vertieft, um der eigenen Familien­geschichte zu folgen. Manchmal endet die Recherche in genealogischen Sackgassen, weil Kirchen­bücher unvollständig sind oder fehlen. So verliert sich die Spur eines männlichen Vorfahren von Wolfgang Köhn, der vermutlich während des Siebenjährigen Krieges zwischen 1756 und 1763 in Schlesien oder Sachsen als preußischer Soldat gefallen ist. Auskunft darüber könnte das „Preußische Geheime Staatsarchiv“ in Berlin geben, wo Gefallenenlisten geführt werden. Wolfgang Köhn überlegt, als Pensionär demnächst dorthin zu reisen. 

Vorfahr in der Gaunerkartei

Hin und wieder gibt es schöne Überraschungen – etwa dann, wenn sich herausstellt, dass langjährige Freunde sogar Verwandte sind, Vettern und Kusinen um viele Ecken. Davon erzählt Rilana Gericke, aber auch Wolfgang Köhn hat Überraschungen erlebt. In eher dürren Worten erzählen Eintragungen vom leidvollen Schicksal einer Vorfahrin, deren Ehemann das Weite suchte.  Als „Verlassene“ wird sie in den nächsten Jahren mit ihren Söhnen im Kirchenbuch geführt. „Ein anderer Vorfahr taucht sogar in einer Gaunerkartei auf“, lacht Wolfgang Kühn, „offenbar wurde er als Betrüger erwischt.“ 

Heute, in Perleberg, ist er einem Rätsel auf der Spur. Um 1858 muss in einer Kirche hier in der Region eine Hochzeit stattgefunden haben. Aus der Ehe ging eine Tochter hervor. Wer war der Bräutigam, wer der Vater? Wo genau war die Hochzeit? Wieso gab es eine weitere Hochzeit mit der Braut ein paar Dörfer weiter? 

Kirchenbücher, deren Inhalte via Mikrofiches über den Bildschirm huschen, Seite für Seite, geben oft klare Antworten, auch wenn das Schriftbild der Pastoren nicht gut zu entziffern ist. Sütterlin! Immer sind Eintragungen in die Kirchenbücher wie faszinierende Puzzles, die es zusammenzusetzen gilt. Jahrzehnt für Jahrzehnt. Familie für Familie. Generation für Generation.

Wer sich als Anfänger und Laie auf die Spuren der eigenen Familie begeben will, sollte sich zunächst an das Evangelische Landeskirchliche Archiv wenden: www.landeskirchenarchivberlin.de

Dort sind unter anderem Mikrofiches der 20000 erhaltenen Kirchenbücher aus dem Gebiet der EKBO bis 1945 aufbewahrt. 

Samstag und Sonntag, 5. und 6. März, Berlin: „Tag der Archive“ unter dem Motto „Fakten, Geschichten, Kurioses“. Unterschiedliche Archive laden zum Tag der offenen Tür ein. Mehr dazu unter: www.vda.archiv.net