Therapeutin zum Buß- und Bettag: Wer verzeiht, löst sich

Schuld und Vergebung spielen eine wichtige Rolle in Beziehungen. In der Kirche gibt es mit dem Buß- und Bettag sogar einen Feiertag dafür. Im Gespräch mit Familientherapeutin Bettina R. Grote.

Der Buß- und Bettag ist ausdrücklich dem Gebet gewidmet
Der Buß- und Bettag ist ausdrücklich dem Gebet gewidmetfreepik.com

Was ist Schuld?
Bettina R. Grote: Es macht Sinn, zwischen moralischer Schuld, juristischer und ökonomischer Schuld zu unterscheiden. In zwischenmenschlichen Beziehungen geht es oft um moralische Schuld. Trotzdem kann es sein, dass zu der moralischen Schuld noch eine juristische Schuld dazu kommt. Zum Beispiel, wenn jemand ein Kind anfährt, während er telefoniert hat, dann ist er auch juristisch schuldig.

Die juristische Schuld ist in der Regel klar erkennbar. Wie ist das mit der moralischen?
Moralische Schuld ist meist das, was die Menschen bewegt oder belastet – also Gedanken wie: „Ich hätte meine alte Mutter besser versorgen müssen.“ Oder: „Ich war meinen Kindern keine gute Mutter.“ Die Logik bei der moralischen Schuld ist: „Ich hätte tun, ich hätte lassen sollen.“ Die Menschen sprechen oft von Schuldgefühlen, was ich aber für problematisch halte.

Warum?
Statt von Schuldgefühlen spreche ich lieber von Schuldgedanken, um eine wichtige Unterscheidung zu machen, die für den Umgang­ mit persönlichen Schuldgefühlen relevant ist. Die Grundstruktur von Schuldgefühlen ist die: Ich sage, tue oder denke etwas. Dann beginnt eine Art bewertendes Selbstgespräch über meine Gedanken oder mein Handeln. Etwa „das hätte ich nicht sagen dürfen“ oder „das hätte ich tun müssen“. Das geschieht alles im Kopf.

Aber es entstehen doch Gefühle?
Aber davor sind diese gedanklichen Aktivitäten. Die haben erst einmal noch nichts mit Gefühlen zu tun. Deswegen ist es etwas verwirrend, von Schuldgefühlen zu sprechen. Es sind ja Gedanken von Schuld und die bewirken natürlich auch Gefühle und Körperreaktionen. Der Gedanke „ich hätte besser für meine Kinder da sein sollen“ weckt bei genauer Betrachtung Gefühle wie Bedauern oder sogar Verzweiflung. Aus meiner Erfahrung kommt man weiter, wenn man erst einmal das gedankliche Konstrukt von „hätte, hätte …“ versteht und dann zu schauen, welche Gefühle unter diesem Gedankenkonstrukt sind. Oft führt das schneller zu einer inneren Ablösung.

Wer sich schämt, hat oft das Gefühl, dass etwas mit einem selbst nicht stimmt. Die Abwertung der eigenen Person hilft jedoch nicht weiter. Reue hingegen ermöglicht eine produktive Korrektur
Wer sich schämt, hat oft das Gefühl, dass etwas mit einem selbst nicht stimmt. Die Abwertung der eigenen Person hilft jedoch nicht weiter. Reue hingegen ermöglicht eine produktive Korrekturrawpixel

Wie kommt es denn zu diesen Schuldgedanken?
Hinter den Schuldgedanken stecken Werte. Wenn die Mutter denkt, sie hätte mehr da sein sollen für die Kinder, dann stehen dahinter Werte wie „sich Zeit nehmen“, „da sein“, „miteinander etwas erleben“: Die Schuldgedanken tauchen auf, wenn wir nicht unseren Werten entsprechend handeln. Und wie gesagt, dann kommen auch Gefühle, die Beachtung brauchen. Das Wort Schuldgefühl trifft nicht das eigentliche Gefühl, da Schuld kein echtes Gefühl ist.

Was heißt: echte Gefühle­?
Gefühle im eigentlichen Sinne sind Traurigkeit, Wut, Verzweiflung. Je nachdem wie ich mein Handeln oder auch Nicht-Handeln bewerte, entstehen in mir bestimmte Gefühle. Wichtig ist, dass man bei den Schuld-Gedanken nicht hängen bleibt. Sondern versucht, zu der Quelle des nicht aufhörenden Selbst­gesprächs zu kommen.

Wie kann das gelingen?
Indem ich mir klarmache, was ich getan oder nicht getan oder gedacht habe. Wenn ich verstehe, dass mein Problem eigentlich darin besteht, dass ich eine andere Vorstellung davon habe, wie ich mich hätte verhalten sollen, wenn ich mich also dieser Widersprüchlichkeit stelle, dann macht das etwas in mir. Dann können die echten Gefühle Raum bekommen.

Es gibt ja diese Haltung: Schuld sind immer die anderen.
Wer ein sehr bewegliches Wertesystem hat, kann sich vieles zurechtlegen. Dann findet man immer Rechtfertigungen für das eigene Verhalten. Dann heißt es etwa: „Die anderen machen das ja auch.“ Aber auch diese Menschen spüren irgendwo, dass es so nicht in Ordnung ist. Der innere Kompass von Menschen, wenn wir dieses Bild für das Gewissen nehmen, ist aber eben sehr unterschiedlich. Wenn jemand überhaupt keine Schuldgedanken hat, dann haben wir es eventuell mit einem Psychopathen zu tun.

Welche Bedeutung haben Scham und Reue?
Wer sich schämt, hat oft das Gefühl: In mir stimmt etwas nicht. Es kann zu totaler Abwertung der eigenen Person führen. Das hilft nicht weiter. Reue dagegen ermöglicht eine produktive Korrektur. Es ist eine erwachsene Haltung zu sagen: Ich habe etwas falsch gemacht, jemanden verletzt – und ich bereue das. Die Reue ist verbunden mit einer Abmachung, das nicht wieder zu tun, etwas wieder gut zu machen.

Ich übernehme Verantwortung für mein Verhalten?
Genau. Es ist sehr heilsam, wenn der oder die andere hört und merkt, dass ich Fehler zugebe. Vor allen Dingen, wenn ich erfasse, was ich im Anderen vermutlich angerichtet habe, dann ist eine Basis geschaffen für Versöhnung. Es ist aber auch wichtig zu verstehen, dass Menschsein mit Verfehlungen verbunden ist. Wir haben ja alle unsere Untiefen.

Man sollte sich auch selbst verzeihen können?
Unbedingt. Eine wohlwollende Haltung sich selbst gegenüber ist hilfreich. Und anerkennen, dass wir nicht schuldlos oder besser nicht auswirkungslos durchs Leben kommen. Manchmal tun wir etwas und haben gute Gründe dafür. Im Rückblick bereuen wir manches und stellen fest, dass wir aus jetziger Sicht ganz anders handeln würden. Das kann erst einmal sehr bitter sein. Schuld-„Gefühle“ helfen da nicht wirklich weiter, sondern können eher zum lähmenden Knabbern an der Vergangenheit führen.

Welche Rolle spielt Versöhnung?
Da gibt es die Unterscheidung zwischen Versöhnen und Verzeihen. Zum Versöhnen gehe ich auf den anderen zu und bitte darum, dass wir wieder gut sind. Zum Versöhnen brauche ich das Gegenüber. Beim Verzeihen brauche ich das Gegenüber nicht. Da steckt das Wort „Verzicht“ drin. Ich verzichte darauf, dass der andere mir entgegenkommt. Ich verzichte sogar darauf, dass er versteht, was das Vorgefallene für mich heißt. Verzeihen heißt aber nicht, dass ich das Geschehene gutheiße.

Da sind wir jetzt bei der Person, der etwas angetan wurde.
Das, was einem Menschen angetan wurde, kann sein Leben bestimmen. Da hat das Verzeihen eine große Kraft. Es ist eine große Tat, und es ist ein Prozess. Es hat viel mit Loslassen zu tun. Wer verzeiht, löst sich, entbindet sich aus der Verstrickung zwischen Täter und Opfer. Manche Menschen sind schnell mit dem Verzeihen, weil sie das Leid nicht aushalten. Aber es ist wichtig anzuerkennen, dass ich gelitten habe. Erst dann kann ich mich bewusst dafür entscheiden, dass ich innerlich loslasse. Dass ich dem anderen nicht die Macht geben will. Verzeihen ist ein Akt der Selbstbefreiung.

Das klingt nach Vergebung.
Vergeben trägt das Verb geben in sich. Ich gebe etwas auf, wenn ich vergebe. Vielleicht gebe ich auch etwas weg, so dass die Bedeutung in mir schwindet. Ich gebe es zu Gott mit der Bitte um Verwandlung. Die Frage ist immer wieder: Will ich gebunden sein? Oder will ich frei sein? Rachegedanken sind genau das Gegenteil davon. Sie binden mich, ebenso die Schuldgedanken.

Aber sind Rachegedanken nicht natürlich?
Vielleicht sind sie natürlich, je nach Herzensqualität eines Menschen. Aber sind sie produktiv? Wo führen sie hin? Ich denke, es ist eine Art Reflex, Unheil oder auch Schmerz ausgleichen zu wollen. Ein Ausgleich und Ausgleichsrituale sind in der Tat wichtig bei dem Phänomen Schuld.

Was meint Ausgleichsritual?
Zuzugeben, etwas falsch gemacht zu haben. Anerkennen und aussprechen, dass ich den anderen verletzt habe. Wenn möglich auch konkret etwas wieder gut machen. Es geht also auch um ein anderes Verhalten, um möglichen Schadens­ausgleich. Für ein Ausgleichsritual braucht es auch den Anderen, seine oder ihre Fähigkeit, es auch gut wieder gut sein zu lassen. Es ist nicht immer leicht, einen Punkt zu setzen, zum Beispiel bei Untreue.

Am Mittwoch ist Buß- und Bettag. Welche Bedeutung hat der Tag?
Er erinnert uns daran, was zu unserem Menschsein gehört: Wir alle machen Fehler. Es ist gut, dazu zu stehen – und nicht dabei stehen zu bleiben. Buß- und Bettag erinnert uns an unsere Fähigkeit zur Umkehr, zur Veränderung. Es wäre schön, die heilende Dimension noch mehr in den Blick zu nehmen. Ich würde den Tag lieber Buß-, Bet- und Heilungstag nennen. Bekennen, verändern und heilen. Wir können unsere Fehler auf den Altar legen, in die allumfassende Liebe Gottes. Das geht über Psychologie hinaus. Wir brauchen immer wieder Reinigung und Heilung.

Ein wichtiger Gedanke…
Schuld und Buße klingen für viele Menschen sperrig, vielleicht weil der Aspekt der Heilung nicht explizit angesprochen wird. Sicher auch, weil die Kirchengeschichte auch voll von Machtmissbrauch ist, in der der Gläubige eher als Untertan gesehen wurde, als das kleine Sünderlein. Das Wirken Jesu ist voller Taten, die das normale Denken über Schuld übersteigen. Er überrascht sein Umfeld mit Großzügigkeit und den warmen Blick für alle. Man könnte sagen, vom Kreuz der Schuld in die Auferstehung der Liebe.