Schuldnerberatung – Oft braucht es praktische Lebenshilfe

Der neue Schuldneratlas bestätigt, wovor Experten angesichts wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen schon lange warnen: Die Zahl derjenigen, die in die Schuldenfalle geraten, hat in Deutschland zum ersten Mal seit 2018 deutlich zugenommen. 5,6 Millionen Haushalte in Deutschland sind überschuldet.

Die Caritas bietet für Betroffene eine kostenlose Beratung an. Josefa Fernandez leitet die Caritas-Beratungsstelle in Berlin-Mitte und hilft seit über 25 Jahren Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen begleichen sollen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht sie über Scham, die Folgen der Pandemie – und erklärt, warum sie nicht Robin Hood ist.

KNA: Frau Fernandez, die vorgelegten Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Spüren Sie diese Entwicklung bereits vor Ort?

Fernandez: Ja, wir haben momentan eine Wartezeit von fünf bis sechs Monaten für eine feste Übernahme, bis wir einen langfristigen Entschuldungsplan erstellen können. Das ist für viele Betroffene eine schwierige Situation, denn sie kommen erst zu uns, wenn eigentlich schon nichts mehr geht – wenn sie etwa die Miete oder den Strom nicht mehr bezahlen können. Damit niemand in eine existenzielle Krise gerät, findet ein Erstgespräch in der Regel innerhalb von zwei Wochen statt. So können wir uns einen ersten Eindruck verschaffen und, wenn nötig, Akuthilfe leisten.

KNA: Wer kommt zu Ihnen – Menschen aus allen Gesellschaftsschichten?

Fernandez: Auch das trifft zu. Es ist ein Mix – darunter sind viele aus dem Niedriglohnsektor, die trotz mehrerer Jobs finanziell nicht zurechtkommen, aber auch Unternehmer, die mit ihrer Geschäftsidee gescheitert sind. Hier in Berlin-Mitte beraten wir auch viele Künstler. Deren Zahl hat sich durch die Pandemie noch einmal drastisch erhöht.

KNA: Was passiert in einem klassischen Erstgespräch?

Fernandez: Für viele Menschen ist es das erste Mal, dass sie über ihre Schulden offen sprechen. Sie wagen bei uns so etwas wie einen Befreiungsschlag – allein das nimmt ihnen eine große Last von den Schultern. Das Thema ist leider noch ein großes Tabu in unserer Gesellschaft – man hat einfach keine Schulden. Dabei gibt es oft schnelle individuelle Lösungen. Das Schöne an meiner Arbeit ist, dass ich einen bunten Blumenstrauß an Hilfsmöglichkeiten dafür anbieten kann.

KNA: Welche Blumen gehören zu so einem Standardstrauß?

Fernandez: Also, es gibt natürlich Klassiker, aber das hängt wirklich von meinem Gegenüber ab. Haushaltsplan und Gläubigeraufstellung – das Handwerkszeug, das ich benötige, um mir erstmal einen Überblick zu verschaffen.

Für manche ist eine langfristige Strategie ratsam, also eine schrittweise Entschuldung. Anderen hilft mehr ein schnelles, aber konsequentes Insolvenzverfahren. Und dann gibt es Situationen, in denen das Schuldenproblem zweitrangig ist. Wer beispielsweise obdachlos ist, braucht zuallererst ein Dach über dem Kopf. Oft spielen auch Suchterkrankungen eine Rolle. Auch dabei helfen wir und vermitteln gegebenenfalls an spezialisierte Beratungsstellen.

KNA: Das heißt, es geht nicht nur um finanzielle Beratung, sondern oft auch um praktische Lebenshilfe?

Fernandez: Absolut, das gehört auch zu unseren Aufgaben. Einem jungen Mann ohne Wohnung habe ich kürzlich erklärt, dass er zunächst Bürgergeld beantragen sollte. Er war der Meinung, ohne festen Wohnsitz habe er keinen Anspruch darauf. Ein anderer wusste nicht, dass ihm Wohngeld zusteht. Wenn wir einen Haushaltsplan erstellen, prüfen wir immer, welche Transferleistungen noch nicht abgerufen werden.

KNA: Kommen immer gleich alle Fakten auf den Tisch? Oder erfahren Sie von manch einer Baustelle erst nach und nach?

Fernandez: Nein, nicht jeder öffnet sich im ersten Gespräch. Aber das finde ich auch sehr menschlich, und ich kann damit gut umgehen. Das Thema ist sehr schambehaftet. Dabei Vertrauen aufzubauen braucht etwas Zeit und eine sichere Umgebung. Die versuche ich hier anzubieten. Mein Büro soll eine freundliche Atmosphäre bieten und keinen Behördencharme ausstrahlen. Ich sitze immer mit meinen Klienten zusammen an einem Tisch und bleibe nicht an meinem Schreibtisch hinter dem Bildschirm. Nur sehr selten brechen Klienten die Beratung vorzeitig ab.

KNA: Haben Sie umgekehrt schon Beratungen abgebrochen oder es abgelehnt, jemanden zu unterstützen?

Fernandez: Auch das kommt nur vereinzelt vor, wenn ich merke, dass unser Angebot missbraucht wird. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn jemand falsche Auskünfte über seine Vermögensverhältnisse gibt, also behauptet, er verfüge nur über ein sehr geringes Einkommen und in Wahrheit verschweigt er einen Teil. Ich lüge für niemanden.

KNA: Gibt es Menschen, die mit falschen Erwartungen zu Ihnen kommen?

Fernandez: Das denke ich nicht. Allerdings erkläre ich oft: „Wir sind nicht der Robin Hood der armen Leute.“ Damit meine ich, dass ich als Schuldnerberaterin auch die Interessen der Gläubiger im Blick behalten muss. Oft geht es auch aus deren Perspektive um Existenzen, wenn beispielsweise ein kleiner Betrieb auf seinen Auslagen sitzen bleibt. Wir sind Vermittler und versuchen immer, eine für beide Seiten gangbare Lösung zu finden. In den allermeisten Fällen gelingt uns das auch.