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Evangelischer Beauftragter: Wir reden bei Migration über Menschen

In der politischen Debatte über die Flüchtlingszuwanderung darf nach Ansicht des evangelischen Theologen Martin Engels nicht untergehen, dass es „immer wieder schlicht und ergreifend um Einzelschicksale und um Menschlichkeit“ gehe. Das sei ihm kürzlich bei einem Besuch der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa gemeinsam mit Abgeordneten des nordrhein-westfälischen Landtags und kirchlichen Experten noch einmal klar geworden, sagte der Beauftragte der Evangelischen Kirchen bei Landtag und Landesregierung NRW dem Evangelischen Pressedienst (epd). „In Lampedusa kann man das Aufeinandertreffen von reichem Norden und globalem Süden wie in einem Brennglas betrachten.“

epd: Vor dem Hintergrund der Migrationsdebatte haben Sie sich zusammen mit Abgeordneten des NRW-Landtags ein Bild von der Lage im italienischen Lampedusa gemacht, wo viele Bootsflüchtlinge aus Afrika die EU erreichen. Welche Eindrücke haben Sie gewonnen?

Martin Engels: In Lampedusa kann man das Aufeinandertreffen von reichem Norden und globalem Süden wie in einem Brennglas betrachten. Im Hafen der Urlauberinsel blickt man auf die Motorboote und Jachten – und direkt gegenüber sieht man den kleinen Pier, an dem letztes Jahr 42.000 Menschen nach einer ungewissen Zeit auf See mit ihren Flüchtlingsbooten ankamen. Dieser Kontrast ist tägliche Realität.

Ich fand es bewegend, diese Überfahrten vor Augen zu haben und die Spuren in den überfüllten Booten zu sehen, in denen oft 80 oder 90 Menschen sitzen, in einem Gemisch von Salzwasser und Benzin und immer in der Gefahr, sich zu verletzen oder zu ersticken. Zugleich hat mich sehr berührt, wie Freiwillige, Mitarbeiterinnen der Waldenserkirche und Ordensschwestern, den Ankommenden direkt am Pier in ökumenischer Eintracht begegnen und sie willkommen heißen – eine Geste der Menschlichkeit.

epd: Hat die Reise Ihr Verständnis von Migration verändert?

Engels: Mir ist vor Ort noch einmal sehr klar geworden, dass wir in unseren Debatten nicht nur über das Thema Migration sprechen, sondern über Menschen – mit einem eigenen Gesicht, einer eigenen Geschichte und einem persönlichen Grund, sich auf den Weg nach Europa zu machen. In den politischen Diskussionen und dem Ringen um mögliche Lösungen geht das manchmal unter: Es geht immer wieder schlicht und ergreifend um Einzelschicksale und um Menschlichkeit.

epd: Was hat Sie überrascht?

Engels: Mich hat der Zustand des Hotspots, der Erstaufnahmeeinrichtung, erstaunt. Vieles wirkte provisorisch und sah so aus, als kämen nicht schon seit zehn Jahren Geflüchtete dort an, sondern als wäre dies eine Überraschung. Beim Blick in die Räume sieht man verrostete Betten und verfärbte Schaumstoffmatratzen, alles hat einen provisorischen Charakter. Das ist für mich schwer zu verstehen.

epd: Sind die Behörden überfordert?

Engels: Der Bürgermeister von Lampedusa hat uns gesagt, dass sich die Insel alleingelassen fühlt. Der Umgang mit Migration und Flucht ist eine gemeinsame europäische Aufgabe und Herausforderung. Wie Solidarität funktionieren kann, zeigt im Kleinen zum Beispiel die Evangelische Kirche von Westfalen, indem sie die Flüchtlingsarbeit der Evangelischen Waldenserkirche in Italien unterstützt, auch andere Kirchen sind daran beteiligt. Im Kern geht es um die Öffnung legaler Passwege für vulnerable Menschen, teilweise auch für Arbeitsmigranten.

epd: Können diese legalen Fluchtwege das Sterben im Mittelmeer eindämmen – und können sie als Vorbild dienen?

Engels: Bei diesen humanitären Korridoren können besonders schutzbedürftige Menschen nach Italien einreisen, ohne sich in Lebensgefahr zu bringen. Als Familie, auf einem sicheren Weg und mit Kleidung im Koffer. Trotz mehrfacher Regierungswechsel ist dieses Programm unangetastet geblieben. Die schnelle Integration dieser Menschen durch die geplante Einreise gibt diesen humanitären Aufnahmeprogrammen ihr Recht. Es ist ein zahlenmäßig kleines Projekt, das aber deutlich macht: Die bisherige Politik ist nicht alternativlos. Die Grundidee dieser Korridore finde ich wegweisend, weil so die Menschlichkeit bewahrt wird, auch wenn nicht alles eins zu eins auf Deutschland übertragen werden kann.

epd: Sie waren mit Abgeordneten von CDU, SPD und Grünen auf Lampedusa, die beim Thema Migration unterschiedliche Positionen vertreten. Mit welchem Ziel?

Engels: Es ging darum, sich gemeinsam vor Ort ein Bild zu machen und trotz unterschiedlicher Positionen miteinander über dieses wichtige Thema ins Gespräch zu kommen. Es ist wichtig, sich nicht gegenseitig in eine bestimmte politische Ecke zu stellen, sondern um Lösungen zu ringen und miteinander im Gespräch zu bleiben. Die ernsthafte und konstruktive Auseinandersetzung hat mich beeindruckt. Es sind nicht alle mit der gleichen Meinung nach Hause gefahren, aber alle mit ihren persönlichen Eindrücken, das wird nachwirken. Wir werden sehen, was es für die weitere Debatte austrägt.