“Es besteht immer die Gefahr, dass Atomwaffen auch eingesetzt werden”

Die Friedensforscherin Juliane Hauschulz warnt vor einem nuklearen Krieg – sei es als Eskalationsschritt oder aus Versehen. Einer europäischen Atombewaffnung erteilt sie vor Beginn einer Fachtagung in Loccum eine klare Absage.

epd: Frau Hauschulz, im Ukraine-Krieg haben sowohl Russlands Präsident Putin als auch indirekt die Nato einen Einsatz von Atomwaffen nicht ausgeschlossen. Für wie große halten Sie die Gefahr, dass es dazu kommt?

Hauschulz: Solange Atomwaffen existieren besteht immer auch die Gefahr, dass sie eingesetzt werden. Im Krieg in der Ukraine erlebt die nukleare Abschreckung eine Renaissance, auch in der öffentlichen Debatte. Trotz des erhöhten Risikos hat die Nato im Oktober 2023 ihre jährliche Atomübung „Steadfast Noon“ abgehalten. Russland übte im Mai 2024 den Einsatz taktischer Atomwaffen nahe der Grenze zur Ukraine. Beide Seiten signalisieren also, dass sie bereit sind, gegebenenfalls Atomwaffen einzusetzen. Beide Seiten sehen die nukleare Abschreckung und damit Atomwaffen als legitimes Mittel der Außen- und Verteidigungspolitik an. Und solange das so ist, kann es auch zu einem nuklearen Einsatz kommen, sei es als weiterer Eskalationsschritt oder auch aus Versehen aufgrund der immer höheren Spannungen.

epd: Wie bewerten Sie die unter anderem von Katarina Barley (SPD) ins Gespräch gebrachte Idee einer europäischen Atombombe?

Hauschulz: Die Debatte um eine europäische Atombewaffnung ist kontraproduktiv. Sie missachtet die aktuellen Strukturen, die eine atomare Bewaffnung der EU unmöglich machen: Entscheidungen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden in der EU einstimmig getroffen, aber bereits drei EU-Staaten haben den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet: Österreich, Irland und Malta. Eine EU-Atombewaffnung würde also an deren Veto scheitern. Eine europäische Atomwaffe müsste also von einer Staatenkoalition jenseits der EU organisiert werden. Zum anderen würde sowohl eine atomare Bewaffnung der EU als auch einer davon unabhängigen Staatenkoalition gegen den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag verstoßen, den gerade die europäischen und die NATO-Länder als Fundament der nuklearen Ordnung betrachten. Dieses Fundament einzureißen kann kaum im Interesse der europäischen Staaten sein.

epd: Das Abkommen zur Begrenzung des iranischen Atomwaffenprogramms scheint gescheitert. Gibt es aus Ihrer Sicht noch Hoffnung auf eine Rettung?

Hauschulz: Soweit wir wissen, hat der Iran bislang keine Atomwaffen entwickelt. Insofern besteht noch die Hoffnung und darüber hinaus der klare Auftrag, eine solche Proliferation zu verhindern. Die internationale Gemeinschaft sollte sich für eine Deeskalation des Konflikts zwischen dem Iran und Israel einsetzen und es sollten die Bemühungen um eine massenvernichtungswaffenfreie Zone im Nahen Osten wiederaufgenommen werden.

epd: Eine Welt ohne Atomwaffen erscheint aktuell weiter entfernt als jemals zuvor. Ist dieses Ziel überhaupt noch zu erreichen?

Hauschulz: Wir sollten das Ziel einer Welt ohne Atomwaffen niemals aufgeben. Denn es wäre die Kapitulation vor menschengemachten, aber angeblich nicht veränderbaren Zwängen. Natürlich ist das Vertrauen in der internationalen Gemeinschaft derzeit gering, die fehlende Kooperation zwischen den Staaten, gerade auch zwischen Russland und den USA, ist schwer wieder in Gang zu bekommen. Dennoch können wir es uns nicht leisten, das einfach zu akzeptieren und unsere Ziele anzupassen. Wir leben in einer Welt der multiplen Krisen, von denen keine von einem Staat alleine gelöst werden kann. Die Klimakrise, die Verhinderung weiterer Pandemien, nukleare Abrüstung, all diese Herausforderungen benötigen internationale Kooperation und Ressourcen. 2023 haben die Atomwaffenstaaten 91,4 Milliarden US-Dollar in Atomwaffen gesteckt. Gelder, die in anderen Bereichen fehlen.

epd: Was müsste aus Ihrer Sicht konkret passieren?

Hauschulz: Wir alle müssen uns endlich darüber bewusst werden, dass wir nur gemeinsam weiterleben können und dass dafür Kommunikation, Kooperation und in Endeffekt auch das Rückstellen eigener Interessen notwendig ist. Das wird nicht von heute auf morgen geschehen, aber wir müssen heute damit anfangen. Im Bereich der nuklearen Abrüstung sollte das Ziel immer die Abschaffung aller Atomwaffen sein, damit wir nicht auf halbem Weg stehenbleiben.

epd: Was sind die nächsten Kampagnen von ICAN und IPPNW?

Hauschulz: Als Zwischenschritt fordert die IPPNW alle Atomwaffenstaaten auf, eine explizite „No First Use-Doktrin“ ins Leben zu rufen. Denn bislang schließt nur China einen Ersteinsatz von Atomwaffen aus, die anderen acht Atomwaffenstaaten tun dies nicht. Zudem fordern sowohl ICAN als auch die IPPNW die Atomwaffenstaaten auf, Verantwortung für die Betroffenen von Atomwaffen zu übernehmen. Denn bereits heute leiden Menschen unter den Folgen der beiden Atomwaffeneinsätze und der über 2.000 Atomwaffentests. Gerade auch diese Überlebenden sind es, die sich im Atomwaffenverbotsvertrag einsetzen und diesen mitgestalten. Deutschland sollte weiterhin an dessen Konferenzen teilnehmen, sich dort einbringen und auch weitere Staaten zu einer Teilnahme ermutigen. Mittelfristig fordern wir, dass Deutschland dem Verbotsvertrag beitritt, die nukleare Teilhabe beendet und damit das nukleare Tabu und das langfristige Ziel einer atomwaffenfreien Welt unterstützt.