Die Fanfare auf dem Klopapier

Der Bläserruf, der seit 1950 auf jedem Kirchentag erklingt, hat eine ungewöhnliche Vorgeschichte

Magdalene Schauß-Flake kommt in Essen zur Welt. Ihr Vater, ein Kaufmann, verstirbt schon 1936. Bei ihrer Mutter, einer Erzieherin, erhält sie ersten Klavierunterricht; sie entdeckt auch Magdalenes außergewöhnliches Talent, unter anderem ein absolutes Gehör, und sorgt dafür, dass sie im Alter von fünf Jahren Musikunterricht erhält.

Nach dem Schulabschluss 1937 besucht Flake mit 16 Jahren die 1927 gegründete Folkwangschule für Musik, Tanz und Sprechen in Essen. Als Berufswunsch gibt sie Organistin an und verdient sich, ohne Wissen ihrer Mutter, ihr erstes Geld als Mitglied einer Jazz-Band in Lokalen.

Musikstudium bei den Großen ihrer Zeit

1941 geht die Musikerin nach Berlin, wo sie bei den Komponisten Ernst Pepping, Hans Chemin-Petit und bei Hugo Distler studiert, in dessen Chor sie singt. Nach dem A-Examen übernimmt sie eine nebenamtliche Stelle in der Christuskirche Essen-Altendorf. Der Krieg verschlägt sie nach Anklam und Hamburg. Im Herbst 1945 ist Flake dann wieder Organistin in Essen und leitet dort die erste musikalische Aufführung nach dem Krieg, die Matthäuspassion von Heinrich Schütz. Im Chor singt der junge Vikar Johannes Schauß, den sie 1948 heiratet. Drei Söhne werden geboren. Ab 1960 lebt die Familie in Burgsponheim bei Bad Kreuznach in Rheinland-Pfalz.

Magdalene Schauß-Flake versteht sich zunächst als Pfarrfrau, mit einem Schwerpunkt in der gemeindemusikalischen Arbeit. Zum Komponieren kommt sie allerdings zumeist nachts, auf Reisen oder sonstwo; möglich ist das nur aufgrund ihres absoluten Gehörs sowie ihrer außergewöhnlichen Begabung. Dazu kommen später viele Konzertreisen in alle Welt.

Die Komposition, mit der Schauß-Flake bekannt und berühmt wurde, ist der Bläserruf zum Essener Kirchentag 1950. Ein Jahr zuvor hatte der Essener Oberbürgermeister Gustav Heinemann (1899-1976) den Deutschen Evangelischen Kirchentag als Einrichtung in Permanenz auf der Deutschen Evangelischen Woche in Hannover proklamiert und ihn in seine Stadt Essen eingeladen. In Hannover 1949 hatte Reinold von Thadden-Trieglaff (1891-1976), der Gründer des Kirchentags und bis 1964 dessen erster Präsident, 6000 Menschen versammeln können. Bei der Schlussversammlung 1950 in Essen waren es 180 000 Menschen, der öffentliche und auch mediale Durchbruch des Kirchentags.

Für diese Schlussversammlung komponiert Schauß-Flake ein Klangzeichen, das von Tausenden Bläsern gespielt wird. Sie erinnert sich: „Im Jahre 1950 fuhr ich im Zug von Essen nach Hause. Auf dem Weg zum Bahnhof sagte Fritz Bachmann zu mir: ‚Morgen muss ich einen Bläserruf für den Kirchentag haben.’ Wo sollte ich auf die Schnelle Notenpapier bekommen? Noch nicht einmal ein normales Blatt Papier hatte ich dabei, das war in den Nachkriegsjahren nichts Außergewöhnliches. Zum Glück war in der Toilette des Zuges eine Rolle Papier; auf einige Blätter zog ich Notenlinien und schrieb den Kirchentagsruf.

Beim Umsteigen in Koblenz kaufte ich einen Briefumschlag und rannte schnell zum nächsten Briefkasten, damit die Post auch am nächsten Tag in Essen eintraf. So entstand der Kirchentagsruf.“ Ausgewählt wurde er dann bei einer Probe von einer Jury, die aus 1000 Kirchenchorsängerinnen und -sängern bestand.

Seit 1950 erklingt der neuntaktige Bläserruf zu Beginn jedes Eröffnungsgottesdiensts und jeder Schlussversammlung, die seit 1983 als Schlussgottesdienst mit Abendmahl gefeiert wird. Er wird damit auch zum akustischen Signal für die Rundfunk- und Fernsehübertragungen aller Kirchentagsgottesdienste. Die doppelchörige Fanfare basiert auf den ersten beiden Takten des Osterchorals „Christ ist erstanden“, die vom Chor I einstimmig gespielt werden. Chor II umspielt diese Melodie mit ineinander geschachtelten Quint- und Quartfolgen, die in strahlendem A-Dur enden: Christ ist erstanden.

Ein musikalisches Bekenntnis

Der Kirchentagsruf ist musikalisch gekennzeichnet durch Bekenntnis, Freiheit und Feierlichkeit zugleich – passend zu dem Ort, an dem der Kirchentagsruf erstmals erklingt: das damalige Stadion in Essener Gruga, das seit 1946 aus 440 000 Kubikmetern Trümmern der Stadt erbaut wurde. Für die Hauptversammlung war in dessen Mitte ein riesengroßes Stahlkreuz aufgebaut worden, das aus einer zerbombten Essener Kirche stammte. So verbindet sich im Kirchentagsruf die von Menschen erschaffene Welt mit ihren Trümmern, ihrem Aufbau, ihren Freuden und Sorgen mit der Verheißung der Auferstehung als einem Ruf zur Weltgestaltung.

Ihr Komponieren ist für Schauß-Flake untrennbar mit der Posaunenchorarbeit verbunden, denn der entscheidende Anstoß zum Komponieren kam für sie von Fritz Bachmann, dem oben erwähnten Obmann, der ihr sagte: „Wir spielen gerne die alten Meister, möchten aber auch mal was Modernes versuchen. Schreiben Sie doch mal was!“ Diese Herausforderung nimmt Schauß-Flake an: „Ich schreibe die schwierigsten Sachen für Profis und die simpelsten für Laien. Es ist schwierig, schlicht zu schreiben, nicht primitiv. Für Profis zu schreiben, ist viel einfacher, aber auch die Stücke für Laien sollen den Schauß-Pfiff haben.“

Ihre Musik stellt an die musikalischen Laien in Posaunenchören hohe Ansprüche. Die Kompositionen im Stil der klassischen Moderne gelten vielen Bläserinnen und Bläsern als zu herb, zu wenig harmonisch.
Aber Schauß-Flake stellt auch inhaltliche Ansprüche: „Die Bläser sind meine Gemeinde, bei denen – und mit denen – ich mit meinen Stücken ‚predigen’ möchte. Wünschenswert dabei ist natürlich, dass sich der Chorleiter zusammen mit seinem Chor intensiv mit Text und Noten, Harmonie und Rhythmus beschäftigt, um das Erlernte und Verstandene an die Gemeinde weiterzugeben. Ich denke also in erster Linie an die Bläser, um der Gemeinde mit meiner Musik etwas zu sagen.“

Schließlich besteht ein Verdienst von Schauß-Flake darin, in der evangelischen Posaunenchorarbeit die Frauenfrage auf unaufdringliche und wirkungsvolle Art präsent gehalten zu haben. Auch hier erweist sich der Essener Kirchentag 1950 als wichtige Schaltstelle: Führende Leute der Posaunenchorarbeit mussten sich hier erstmals öffentlich zum sogenannten. „Mädchenblasen“ positionieren. Der Gelsenkirchener Posaunenchorleiter Manfred Büttner wollte mit seinem Posaunenchor aus beiden Geschlechtern eine Kantate von Johannes H. E. Koch (1918-2013) zur Uraufführung bringen. Der zuständige Landeskirchenmusikdirektor Wilhelm Ehmann lehnte es jedoch rundweg ab, dass Bläserinnen sich an der Uraufführung beteiligen sollten. Doch durch ein Votum des westfälischen Präses Ernst Wilm kam dennoch der erste Auftritt von Bläserinnen auf einer Großveranstaltung zustande.

Es ist viel, was mitklingt, wenn Posaunen und Trompeten auch in Corona-Zeiten diesen Kirchentagsruf von Türmen und Zäunen erklingen lassen. Möge diese Musik Menschen aufwecken und Mut machen, weiterzugehen, sensibel für die Nöte der Menschen, für die Gleichberechtigung aller Menschen und für die Klänge unserer Zeit.