Betroffener von sexueller Gewalt: „Mein Leben ist zerstört“

Mitte der 1980er-Jahre studierte der Kirchenmusiker Matthias Hoffmann-Borggrefe an der Kirchenmusikschule Düsseldorf. Was dort geschah, hat Wunden für immer hinterlassen.

Matthias Hoffmann-Borggrefe fragt sich, ob es weitere Betroffene gibt
Matthias Hoffmann-Borggrefe fragt sich, ob es weitere Betroffene gibtNadine Heggen

„Halte dich von ihm fern!“, war der Rat seiner Orgellehrerin, dem Matthias Hoffmann-Borggrefe vier Jahre lang folgte, so gut es ging. Der 21-Jährige studierte in der Kirchenmusikschule der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf, als der damalige Direktor der Abteilung Evangelische Kirchenmusik ihn vergewaltigte. Sie waren zu zweit in dessen Arbeitszimmer, um eine Partitur gemeinsam durchzugehen, erinnert sich Hoffmann-Borggrefe. Da passierte es.

Der Student vertraute sich zunächst direkt nach der Tat nur seiner Orgellehrerin Almut Rößler an. 1984 war das, Hoffmann-Borggrefe war bereits zwei Jahre Student der Hochschule. Bis 1988 blieb er dort.

Der Täter, dessen Name der Redaktion bekannt ist, war ein angesehener Kirchenmusiker und Hochschullehrer in Düsseldorf. 2006 starb er.

„Wir wurden weggeschickt wie Nestbeschmutzer“

1989 allerdings erfuhr Almut Rößler, die 2015 verstorben ist, von einem weiteren Studenten, der sexuell belästigt wurde. „‚So kann es nicht weitergehen‘, hat sie gesagt und uns zum Landeskirchenamt geschickt.“ Matthias Hoffmann-Borggrefe musste der damaligen Oberkirchenrätin schildern, was ihm widerfahren war, saß schließlich auch mit seinem Peiniger im Besprechungszimmer. „Er hat alles abgestritten, und wir wurden weggeschickt wie Nestbeschmutzer.“

2011 hat die rheinische Landeskirche schließlich, auch auf Aussage von Almut Rößler hin, den Missbrauch anerkannt. In diesem Jahr war Matthias Hoffmann-Borggrefe bereits Kirchenmusikdirektor an der Hamburger Hauptkirche St. Nikolai, gestaltete große Chor- und Orchester-Aufführungen. Schweigsam, zurückhaltend, so beschreibt er sich selbst. Er habe kein Selbstwertgefühl, fühle sich minderwertig und schuldig. Bis er auf die Bühne trete, sich ganz in die Musik begeben und in ihr aufgehen könne. Spricht er davon, treten ihm die Tränen in die Augen.

„Mein Leben ist zerstört“

Die Nordkirche bestätigt ihr Wissen um das, was dem Musiker geschah. „Der Fall ist sowohl in der Evangelischen Kirche im Rheinland, wo der Missbrauch stattfand, als auch in der Nordkirche bekannt. In der Nordkirche haben sich verschiedene Stellen mit dem Anliegen von Herrn Hoffmann-Borggrefe befasst, den Einschränkungen im Leben und im Beruf durch die Traumafolgen zu begegnen“, teilt sie auf Anfrage mit.

Hoffmann-Borggrefe leidet an schweren Depressionen und Posttraumatischen Belastungsstörungen. Immer wieder musste er daher seine Tätigkeit an der Hauptkirche für Klinikaufenthalte unterbrechen. Seit Februar 2023 ist er in Altersteilzeit, der inzwischen 60-Jährige lebt heute mit seiner Ehefrau auf Pellworm. „Aufgrund meiner psychischen Erkrankung bin ich mittlerweile schwerbehindert und kann nicht mehr arbeiten. Mein Leben ist zerstört.“

Das Vaterunser kann er nicht beten

Wird im Gesangbuch der Satan genannt, löst dies sofortige Reaktionen aus. Der Täter habe so eine sanfte Stimme, so eine feine Art gehabt, sagt Hoffmann-Borggrefe. Für ihn der leibhaftige Teufel.

„Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, heißt es im Vaterunser. „Ich kann das nicht beten“, sagt Hoffmann-Borggrefe. „Ich bin an allem schuld. Kognitiv weiß ich, dass das nicht stimmt. Aber Gefühl und Verstand gehen da auseinander.“ Es ist ein Gefühl, das ihn durch sein ganzes Leben begleitet, erlitt er doch bereits in seinem Elternhaus Gewalt. Den jähzornigen Vater beruhigte er durch sein Klavierspiel. „Ich bin an allem schuld und habe es mit Musik kompensiert.“

Ein Gedenkgottesdienst für die Opfer

Was Hoffmann-Borggrefe aufwühlt, ist die Frage, wie die Kirche mit den Betroffenen umgeht. Wie die Kirche in Düsseldorf seinen Peiniger schonte. „Wir prangern viel an in der Kirche: Armut, Klimawandel, Gewalt. Aber warum richtet sich der Blick nicht in die eigene Institution? Ich wünsche mir, dass die Kirche ihren eigenen Riss in der Öffentlichkeit zeigt.“ Hoffmann-Borggrefe schlägt einen Gedenkgottesdienst für die Betroffenen sexualisierter Gewalt vor, in dem es etwa um Jefta und Tamar aus dem Alten Testament geht. Eine Veranstaltung in Hamburg, mehr nicht.

Und er fragt sich, wem in den 1980er-Jahren an der Kirchenmusikschule in Düsseldorf noch etwas so Schreckliches passiert ist. „Mir geht es darum, dass die Überlebenden der Geschichte ihren Seelenfrieden finden können.“