Bertold Höcker mit Zukunftsideen für die Kirche

Bertold Höcker (64) wird am 21. Juli in einem Gottesdienst am Vorabend des Christopher-Street-Days in der St. Marienkirche in Berlin-Mitte am Alexanderplatz aus seinem Amt verabschiedet.

Bertold Höcker
Bertold HöckerMartin Kirchner

Der scheidende Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Berlin Stadtmitte, Bertold Höcker, plädiert für tiefgreifende Strukturreformen in der Kirche. Dazu gehörten größere Verwaltungseinheiten und die Aufgabe des Parochialprinzips, des Prinzips der Ortsgemeinden, sagte Höcker im Gespräch mit Lukas Philippi vom Evangelischen Pressedienst.

Herr Höcker, in Ihrem Wikipedia-Eintrag steht, Sie seien ein „unkonventioneller Reformer“, gerade mit Blick auf kirchliche Strukturen. Wie ist das zu verstehen?

Bertold Höcker: Unkonventionell heißt, niemals den Mut zu verlieren. Obwohl die Sache aussichtslos scheint, immer weiterzumachen. Die meisten geben auf. Angesichts unserer Strukturen ist das ja auch nicht verwunderlich. Das heißt aber nicht, dass man die Hoffnung und Zuversicht aufgeben kann.

Wie sieht angesichts Ihres Ausscheidens aus dem Amt der Blick zurück aus?

Ich war jetzt 14 Jahre im Amt. Da schlägt man einige Pflöcke ein. Vieles gelingt, vieles gelingt auch nicht. Drei Beispiele: Ich habe mit meinem Team die Immobilienentwicklung im Kirchenkreis eingeführt. Wir haben die interreligiöse Arbeit verstärkt und die Kirche für queere Lebensformen geöffnet. Das sind drei wichtige Errungenschaften, auch wenn es noch viel mehr gibt.

Eine zentrale Immobilienbewirtschaftung unter dem Dach eines Kirchenkreises ist ja jetzt nicht unbedingt neu.

Das ist in der Tat keine Reform. Wir haben aber hier im Kirchenkreis die Hauslinie: Keine Kirche wird aufgegeben. Als Kirchenkreis entwickeln wir die Kirchen, die die Gemeinden nicht mehr brauchen.

Reformationskirche Berlin-Moabit
Reformationskirche Berlin-MoabitIMAGO / Steinach

Als Beispiele nenne ich die Reformationskirche in Moabit, die von einem Konvent seit 2011 als Kultur- und Veranstaltungszentrum entwickelt wird, und die St.-Simeon-Kirche in Kreuzberg, die seit 2015 zu Deutschlands erster Flüchtlingskirche geworden ist. Beide wurden von den Gemeinden aufgegeben, der Kirchenkreis hat sie übernommen. Heute sind es vitale Orte evangelischer Verkündigung.

Aber es gibt doch leerstehende, zumindest nicht mehr für Gottesdienste genutzte Kirchen in der Berliner City?

Wir haben keine leerstehenden Kirchen. In allen Kirchen, die zu unserem Kirchenkreis gehören, findet Gottesdienst statt. Der ist vielleicht nur zweimal im Jahr, aber es findet Gottesdienst statt. Das ist eine wichtige Errungenschaft: Da, wo Kirche draufsteht, ist auch Kirche drin. Wir geben Orte der evangelischen Verkündigung nicht anheim als Eventorte oder an weltliche Träger ab. Das gibt es bei uns nicht. Wir entwickeln diese Kirchen gemeinsam mit Partnern.

Für die Vermarktung hat der Kirchenkreis mit „Besondere Orte“ ein eigenes Unternehmen an der Hand.

Der ökonomische Umgang mit den uns anvertrauten Ressourcen ist für viele noch ungewohnt. Der Sinn einer Kirche kann es nicht mehr sein, dass sie unter der Woche leer steht. Sondern durch die Zusatznutzungen, die „Besondere Orte“ organisiert, ermöglichen wir, dass der Gottesdienst weiter stattfinden kann. Würde dies nicht passieren, müssten die Kirchen aufgegeben werden und der Gottesdienst wäre erloschen. Das darf nicht sein. Dabei gilt: Die Zusatznutzungen müssen zum Ort passen. Der Sinn einer Kirche als Ort des Glaubens und des Gottesdienstes muss immer an oberster Stelle stehen.

Sie sind also entschieden gegen die Aufgabe eines Kirchengebäudes?

Ja, absolut. Wir müssen diesen Weg nicht gehen. Wir können aus unseren Kirchen überall vitale Orte machen. Das dauert und macht viel Mühe. Aber die Abgabe von Kirchen ist keine Alternative.

Widerspricht das nicht Ihrem Ziel, das Parochialprinzip bei den Stadtgemeinden zugunsten „kirchlicher Orte“, die für besondere Profile stehen, aufzulösen?

Parochiale Strukturen sind meines Erachtens eher Hinderungsgründe für die Weiterentwicklung von Kirchen. Wenn wir in „kirchlichen Orten“ denken, denken wir nicht mehr in überholten Rechtsstrukturen. Für eine lebendige Verkündigung ist es egal, welche Rechtsstruktur hinter einem kirchlichen Ort steht. Dabei denke ich nicht nur an Kirchen, sondern auch an evangelische Schulen, Gemeindehäuser, Diakonie-Stationen.

Wären Sie auch für eine Aufgabe der Selbstständigkeit von Kirchengemeinden?

Nein. Dann würde ja der Kirchenkreis zur Großgemeinde mutieren. Das wäre ein neues Konstrukt. Aber das große Problem ist doch die Überforderung der Ehrenamtsgremien durch die zunehmende Bürokratisierung. Das kann so nicht weitergehen. Schauen Sie sich die Tagesordnung von Gemeindekirchenräten an. Die beschäftigen sich heute fast gar nicht mehr mit theologischen Fragestellungen, aber mit einer Fülle von Verwaltungsaufgaben. Und das wird immer schlimmer, weil wir staatliche Strukturen in die Kirche übertragen. Aber das schaffen wir nicht mehr.

Wie lautet die Lösung?

Wir brauchen eine Kirchenreform. Wir brauchen eine angepasste Struktur für eine kleiner werdende Kirche. Ziel muss sein, in kirchlichen Orten der Verkündigung zu denken, nicht mehr in Ortsgemeinden. Ein Kirchenkreis übernimmt dann nicht nur die Verantwortung für alle Mitarbeitenden in den Gemeinden und schaut, wer wo am besten nach seinen oder ihren Fähigkeiten zum Einsatz kommt. Sondern auch das vorhandene Ver[1]mögen der Gemeinden wird zusammengelegt und die kirchlichen Orte mit ausreichend Ressourcen versorgt. Kirchengemeinden, die historisch bedingt über ein großes Vermögen verfügen, werden dann nicht mehr andere Leistungen anbieten können als Gemeinden, die gar nichts haben. Personal und Budget würden künftig nach dem Solidarprinzip und je nach Bedarf für einen bestimmten Ort verteilt. Wenn wir diese Schritte nicht gehen, wird mittelfristig unsere ganze Struktur zusammenbrechen.

Was würde dies für die Ehrenamtsgremien bedeuten, die als Kontrollinstanzen auch den Hauptamtlichen auf die Finger schauen sollen?

Kontrollinstanzen sind im Wesentlichen die Verwaltungen und das Konsistorium. Es nützt ja nichts, wenn sie Aufsichtsgremien mit wohlmeinenden Menschen haben, die von der Sache nichts verstehen und letztlich dann überfordert sind.

Ist das Ihr Resümee mit Blick auf Kreiskirchenrat und -synode?

Auch ein Kreiskirchenrat ist letztlich mit dem, was er alles zu verantworten hat, überfordert. Das geht nur, wenn es im Hintergrund eine hochprofessionelle Verwaltung gibt, die ihm zuarbeitet. Deshalb haben wir ja auch ein effizientes Verwaltungsamt, gemeinsam mit zwei anderen Kirchenkreisen. Wir brauchen angepasste Strukturen. Die jetzige Organisationsstruktur ist für ein Großunternehmen. Wir sind aber von unserer Größe nur noch ein mittelständisches Unternehmen. Sind Sie auch für eine Mindestmitgliederzahl für Berliner Kirchengemeinden? Mein Vorschlag für den Sprengel Berlin wäre, dass eine eigenständige Kirchengemeinde in der Stadt mindestens 3 000 Gemeindeglieder haben muss. Je größer eine Gemeinde ist, umso mehr hat die Pfarrperson Zeit für die pastorale Arbeit. Sie sollte zudem groß genug sein, um eine professionelle Geschäftsführung einstellen zu können. Ideal wäre eine Größe von mindestens 6 000 bis 8 000 Mitgliedern.