Aus dem „Beharrungsmodus“ herauskommen

Hoffnung statt Zukunftsangst – diese Botschaft will der Bischof der 1,8 Millionen Mitglieder zählenden Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Ernst-Wilhelm Gohl, verbreiten. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärt er, was ihm in schwierigen Zeiten Hoffnung macht – und warum er sich nicht als „enfant terrible“ innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) betrachtet.

epd: Herr Landesbischof, an Weihnachten sind die Kirchen so voll wie sonst nie im Jahr. Welche Botschaft sollten Pfarrer, welche Botschaft möchten Sie den Menschen bei dieser Gelegenheit mitgeben?

Gohl: Glaubensgewissheit. In dieser Zeit von Verunsicherung – politisch, finanziell, aber auch in der Kirche – sollten wir die Gewissheit unseres Glaubens stark machen. Vieles, was wir für sicher gehalten haben, ist gar nicht so sicher. Das hat man etwa bei der Corona-Pandemie gemerkt. Mit dem Apostel Paulus sollten wir uns wieder vergegenwärtigen: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes. Das ist die zentrale Botschaft, die wunderbar zu Weihnachten passt.

epd: Im vergangenen Jahr kehrten bundesweit rund 900.000 Menschen der evangelischen und der katholischen Kirche den Rücken. Warum sind die Kirchen für viele Menschen nicht mehr attraktiv?

Gohl: Es gibt nicht die eine Erklärung dafür. Wir sehen einen Megatrend, dass sich Menschen von großen Institutionen verabschieden – von Parteien, Vereinen, Gewerkschaften und von der Kirche. Es zermürbt Pfarrerinnen und Pfarrer, wenn sie eine tolle Gemeindearbeit machen und die Leute trotzdem austreten. Neulich erzählte mir einer, wie begeistert ein Brautpaar die kirchliche Trauung erlebt und sich danach noch herzlich bedankt habe. Ein Jahr später haben sie dann die Kirche verlassen. Da fehlt heute auch ein bisschen die Solidarität, die Kirche zu unterstützen, auch wenn man sie im Moment gerade nicht so sehr braucht.

epd: Geht es den Menschen einfach zu gut, dass sie zunehmend meinen, auf Gott und Kirche verzichten zu können?

Gohl: Auch das ist zu einfach. Dann hätten die Kirchen während und nach der Corona-Pandemie wieder voll sein müssen. Gegen den starken Trend zum Individualismus haben es Institutionen einfach schwer. Wenn wir weiterhin Volkskirche bleiben wollen – und ich bin ein Verfechter der Volkskirche -, dann müssen wir uns davor hüten, eine Klientelkirche zu werden. Wir versuchen weiterhin, unterschiedliche Frömmigkeitsrichtungen zusammenzuhalten. Damit leisten wir auch etwas für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft, die sich verstärkt polarisiert.

epd: Welche Konsequenzen sind dann aus Mitgliederschwund und sinkendem Interesse an Religion zu ziehen?

Gohl: Wenn Glaube nicht mehr selbstverständlich ist, muss man viel mehr erklären. Wir müssen besser kommunizieren, warum es gut ist, dass es Kirche gibt, und zwar mit überzeugenden und liebevoll engagierten Menschen, die von der Botschaft von Jesus Christus begeistert sind. Viele Menschen kennen die Kirche nur noch aus den Medien. Umso wichtiger ist es, attraktive Erfahrungen mit Kirche zu organisieren.

epd: Wir sehen gerade bei Kindern und Jugendlichen einen deutlichen Traditionsabbruch in Sachen Kirche. Wie wollen sie dem begegnen?

Gohl: Zum einen ist es gut, dass wir den Konfirmationsunterricht vor 25 Jahren grundlegend reformiert haben und mit „Konfi 3“ schon in der Grundschulzeit ein Angebot machen, das junge Menschen enger mit der Kirche in Berührung bringt und auch ihre Eltern bei Fragen des Glaubens begleitet. Zum anderen sollten wir sie auch beteiligen. Während der Pandemie haben viele Gemeinden mit der Übertragung ihrer Gottesdienste ins Internet begonnen. Und da sieht man erstaunlich viele Jugendliche, die Computer, Kamera und Mischpult bedienen. Sie werden gebraucht und können sich einbringen. Auch in Begleitbands sind viele junge Leute. Von solchen Beteiligungsangeboten brauchen wir mehr.

epd: Was würde der Gesellschaft denn fehlen, wenn es die Kirchen nicht mehr gäbe?

Gohl: Christen haben Hoffnung statt Zukunftsangst. Und diese Hoffnung brauchen wir in dieser Zeit. Aus der jüngsten Mitgliederuntersuchung wissen wir, dass sich kirchlich Engagierte auch in der Gesellschaft in hohem Maße einsetzen. Ohne Kirchen ginge also viel „Sozialkapital“ verloren. Der gemeinsam praktizierte Glaube ist zudem das beste Gegenmittel gegen absolute, lebensfeindliche Ideologien. Kirchen machen bewusst, dass der Mensch sich nicht an die Stelle Gottes setzen kann und darf.

epd: Weniger Mitglieder bedeutet mittelfristig auch weniger Geld. Allein für Pensionen und Beihilfen gibt es in Württemberg eine Finanzierungslücke von 740 Millionen Euro, die in den nächsten zehn Jahren geschlossen werden soll. Warum müssen Pfarrer eigentlich Beamte sein? In anderen Ländern und auch in vielen Freikirchen finanzieren Gemeinden ihre Pfarrer selbst.

Gohl: Die Kirche steht und fällt nicht damit, ob Pfarrerinnen und Pfarrer beamtet sind. Die Notwendigkeit des Beamtenverhältnisses wird derzeit ganz unideologisch und ohne Denkverbote geprüft. Klar ist aber auch: Wollte man hier eine Änderung, kann es keinen württembergischen Alleingang geben. Das muss bundesweit auf der Ebene der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geregelt werden.

epd: Die Kirche wird sparen müssen. Haben Sie Vorschläge, in welchen Bereichen das am wenigsten schmerzhaft sein wird?

Gohl: Schmerzhaft wird es in jedem Fall. Wir haben ja bislang nichts Unnötiges gemacht. Aber das Rasenmäherprinzip, bei dem in jedem Bereich etwas gekürzt wird, lässt sich mittelfristig nicht halten. Wir müssen also die Frage beantworten: Wo kommen wir unserem Verkündigungsauftrag am wirkungsvollsten und nachhaltigsten nach? Ich halte beispielsweise die Klinikseelsorge für absolut zentral. Es wäre fatal, wenn wir uns als Kirche nicht mehr um die Kranken und ihre Angehörigen kümmerten. Am Schluss der Überlegungen werden wir dennoch priorisieren müssen – und das wird richtig wehtun, wenn Bereiche kirchlicher Arbeit auch wegfallen.

epd: Was ermutigt Sie in dieser kritischen Situation, in der sich die Kirche befindet?

Gohl: Mich ermutigen Gemeinden, die mit einfachen Mitteln und hochengagierten Menschen eine großartige Arbeit machen. Davon gibt es viele, und sie zeigen mir: Wir sind als Kirche in vielen Dingen besser als unser Ruf. Gerade in der Advents- und Weihnachtszeit gibt es so viele tolle Angebote, und zwar nicht nur in der Kirche, sondern auch auf den Straßen und in den Häusern. Das ist sehr ermutigend.

epd: In den ersten eineinhalb Jahren als Bischof haben Sie sich gegen den EKD-Synodalbeschluss zum Tempolimit auf Autobahnen und gegen die EKD-Ratsempfehlung zum Paragrafen 218 positioniert. Sind Sie das „enfant terrible“ der EKD?

Gohl: Den Eindruck habe ich nicht. Wenn Protestanten nicht mehr unterschiedliche Positionen diskutieren können – wer denn dann? Es gab übrigens auch viel Rückendeckung für mein Votum, den Abtreibungsparagrafen nicht aus dem Strafrecht herauszunehmen.

epd: Warum ist Ihnen eine klare Positionierung zum Lebensschutz – auch mit dem Mittel des Strafrechts – so wichtig?

Gohl: Das ungeborene Leben wird durch das Grundgesetz in besonderer Weise geschützt. Auch die Selbstbestimmung und Unversehrtheit der Frau besitzen diesen besonderen Schutz. Diese Grundrechtskollision darf nicht zulasten einer Seite hin aufgelöst werden. Wenn wir dem Embryo die Würde absprechen, werden wir das auch bei Menschen am Lebensende tun. Das Recht muss klarmachen: Leben ist unverfügbar. In so einer zentralen Frage sollten wir übrigens auch die ökumenische Gemeinschaft nicht einfach auflösen. Ich habe mich in dieser Frage ja gemeinsam mit meinem katholischen Bischofskollegen Gebhard Fürst an die Öffentlichkeit gewandt.

epd: In der Kirche gibt es derzeit viele Fusionen – von Gemeinden, von Kirchenbezirken, vielleicht demnächst auch von Prälaturen. Sind größere Einheiten wirklich die Lösung? Viele Gemeindeglieder wollen einfach nur die Kirche im Dorf, aber nicht ein paar Kilometer zum Gottesdienst fahren.

Gohl: Solche Einwände begegnen mir in den Gemeinden oft. An einer Änderung der Zahl von Pfarrerinnen und Pfarrer kommen wir langfristig nicht vorbei. Wichtig ist, dass es auch weiterhin eine Ansprechperson vor Ort gibt, die für eine Gemeinde oder einen Seelsorgebezirk zuständig ist. Natürlich ist es mit Trauer verbunden, wenn es nicht wie bisher an jedem Ort einen Gottesdienst gibt, gerade auf dem Land. Da verschwinden aus den Dörfern die Schulen, die Bankfilialen – und dann gibt es auch nicht mehr jeden Sonntag einen Gottesdienst. Aber man muss auch irgendwann aus dem Beharrungsmodus herauskommen. Das ist für mich eine geistliche Frage: Wenn ich unbedingt meinen Pfarrer für mich behalten will – wie sollen dann die Nachbargemeinden versorgt werden?

epd: Wir danken für das Gespräch. (3019/18.12.2023)