Ankerplatz in der Fremde

Die Deutsche Seemannsmission unterstützt Seeleute aus aller Welt, unter anderem in Bremerhaven, dem zweitgrößten deutschen Hafen. Die Arbeit der Mission ändert sich immer wieder, zuletzt durch die Corona-Beschränkungen. Ein Ortsbesuch.

Nicht jeder darf in den Hafen von Bremerhaven. Rüdiger Zimnik schon. Er hat eine besondere Chipkarte, mit der sich die Schranken öffnen. Seit dem 11. September 2001, dem Anschlag auf das World Trade Center, ist vieles anders in den Häfen dieser Welt. Es gilt der „Internationale Code für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen“. Zimnik kennt das Regelwerk und hält sich daran, genauso wie an die Corona-Abstands- und -Hygieneregeln. Der 68-Jährige passiert die Schranke und befestigt ein rotes Blinklicht auf dem Dach seines Wagens. Seit 2011 macht er ehrenamtlich Bordbesuche. Begleitet wird er von Neele Hilbrand, 18, sie macht ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Seemannsmission. Die beiden haben Telefonkarten dabei, ein „Schlüssel“ zu den Seeleuten.

Telefonkarten als „Schlüssel“

90 Prozent aller Handelsgüter gelangen per Schiff aus Übersee zum deutschen Kunden. Die Seemannsmission kümmert sich um faire Transport- und Arbeitsbedingungen. Neben dem Anschlag von New York hat vor allem die Einführung des Containers die Arbeit der Seemannsmission entscheidend verändert.

Ende der 1960er Jahre legten die ersten Containerschiffe in deutschen Häfen an, bald darauf gehörten die Zeiten, in denen man Kisten und Säcke noch am Haken aus den Frachtern hieven musste, der Vergangenheit an. Heute ist der Container das Maß aller Dinge. Mit der Folge, dass die Liegezeiten der Schiffe immer kürzer werden und Seeleute kaum noch von Bord kommen. Also besuchen die Mitarbeiter der Seemannsmission sie auf ihren Schiffen.

Mit Tempo 30 zuckelt Zimnik hinter einem langbeinigen Vancarrier hinterher. Er parkt beim Containerterminal 4, schnappt sich seinen Helm und eine leuchtend orange Jacke und geht die wippende Gangway der „Magnus F“ hinauf, an deren Ende eine Wache die Personalausweise sehen möchte. Der Erste Offizier winkt ihn wortlos durch. In der Crew-Messe sitzt José, 51. Er bietet dem Überraschungsbesuch einen Kaffee an. Die beiden Männer kommen ins Plaudern, Zimnik erkundigt sich nach der Besatzung, drei Filipinos, zwei Inder und neun Ukrainer. José erzählt von seinen Kindern, vom Schulgeld, das er bezahlen muss. Als Bootsmann verdient er rund 1500 US-Dollar, „dreimal so viel wie einer mit einem Landjob“, schätzt Zimnik. „Die Seeleute sind die Ernährer ihrer Familien.“

Am Ende lässt Zimnik noch ein paar Zeitungen zurück, in den Sprachen der Besatzungsmitglieder, denn kaum etwas interessiert einen Seemann so wie Nachrichten aus der Heimat. Drei Bordbesuche schaffen Zimnik und Hilbrand an diesem Vormittag. Vor allem der auf der „APL Norway“ lohnt, denn das Schiff ist zum ersten Mal in Bremerhaven. Und die 22 Besatzungsmitglieder haben noch nie vom „Welcome“ gehört, dem Club der Seemannsmission. Hilbrand notiert eine Handynummer. Wenn die Seeleute anrufen, dann holt ein Shuttle-Bus sie ab.

Deutschlands zweitgrößter Seemannsclub – nur der „Duckdalben“ in Hamburg ist größer – liegt an der Nordschleuse, zwischen Werft und Container-Terminal. Sein Name ist Programm. An 365 Tagen im Jahr ist „Welcome“ Anlaufpunkt für Seeleute aus aller Welt. Mehr als 500 000 sind seit seiner Eröffnung 2003 zu Gast gewesen.

Gleich hinter dem Eingang ist ein Rondell mit Sitzgelegenheiten. Hier können Seeleute ihre Beine hochlegen und die Handys aufladen. Dahinter ein Raum mit Billardtisch, Sinnbild für festen Boden unter den Füßen und unverzichtbar in Häusern der Seemannsmission.

Zur Linken ein Verkaufstresen, ein Karaoke-Raum, schallisoliert, und ein „Raum der Stille“, interkonfessionell. Und draußen ein Sportplatz, „ganz wichtig für Leute, die lange in immer wiederkehrende Arbeitsabläufe eingebunden sind und nach Feierabend nicht mal eben rauskönnen“, sagt Thomas Reinold, der Clubleiter.

Die Lebensbedingungen der Matrosen sind hart

Wenn Reinold etwas auf die Palme bringt, dann ist es das Klischee vom Akkordeon spielenden Matrosen. „Die flicken auch keine Netze.“ Nein, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind andere, härtere. Wer wirklich mehr erfahren will, der schaut abends rein, wenn Corona es denn gerade zulässt. Seeleute sind fast immer da, so wie die fünf Filipinos, die an einem Tisch hocken, vor sich Bier und „Speck Krusten“, eine Chips-Variante. Und natürlich das Handy.

„Das ist das Erste, was sie wollen: nach Hause telefonieren“, sagt Annette Moritz, eine Mitarbeiterin. „Früher waren wir total wichtig, weil wir Telefone zum Ausleihen hatten. Heute kommen die Seeleute wegen der Atmosphäre, der Geborgenheit.“

1896 wurde die Seemannsmission in Bremerhaven gegründet. Seit 1900 unterhält sie ein Haus mitten in der Stadt. Im Seemannshotel „portside“ in der Schifferstraße übernachten Seeleute, wenn ein Crew-Wechsel ansteht. Wenn noch Zimmer frei sind, was fast immer der Fall ist, können hier auch Touristen nächtigen – ein Geheimtipp.

Denn das „portside“ liegt nur gut fünf Fußminuten vom Deutschen Auswandererhaus und dem Klimahaus entfernt, zwei touristischen Hotspots, die Lage könnte also kaum besser sein. „Und dann ist eine Übernachtung im Seemannshotel für viele so ein i-Tüpfelchen“, sagt Dirk Obermann, Diakon und Leiter des Hauses.

Aktuell öffnet das Haus allerdings ausschließlich für Seeleute. Der Grund: Corona. Die Pandemie hat auch das Kreuzfahrtgeschäft zum Erliegen gebracht, zumindest vorübergehend. Normalerweise wird es im Haus unruhig, wenn ein Kreuzfahrtschiff an der Columbuskaje festmacht. Dann beginnt der große Run auf SIM-Karten, Instant-Suppen und – ganz wichtig – Schokolade. Um die 11 000 Tafeln gehen pro Jahr weg. Manchmal kommen Filipinos mit einem Koffer und packen ihn randvoll. Oder präsentieren ihren Lieben daheim das Süßwarenangebot per Skype oder Whats­App, die ganze Familie darf dann ein Wörtchen mitreden.

Anschließend können sich die anderen Gäste wieder entspannt in den Sesseln neben dem Tresen lümmeln. Oder sich die Zeit mit einer Partie Billard vertreiben.