„Verschickungskinder“: Allein, verlassen und ausgeliefert

In der Nachkriegszeit wurden Millionen Kinder in Kurheime verschickt, um dort wieder aufgepäppelt zu werden. Viele von ihnen kehrten traumatisiert zurück. Ein Mahnmal erinnert an ihr Schicksal.

Sabine Schwemm mit einer Postkarte vom Waldhaus und ihrem "Kinderkoffer"
Sabine Schwemm mit einer Postkarte vom Waldhaus und ihrem "Kinderkoffer"epd-Bild / Jens Schulze

Die Sache mit der Personaltoilette hat sich besonders tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Denn Kindern war es strengstens verboten, diese Toilette zu benutzen – damals bei der Kinderkur im November 1968. Sabine Schwemm aus Hannover tat es trotzdem, aus Versehen, sie war damals noch keine fünf Jahre alt. „Sie haben mich übers Knie gelegt, geschlagen und eingesperrt“, erinnert sich die heute 60-Jährige. Die Betreuerinnen erzählten ihr auch, dass sie ein böses, ungezogenes Kind sei und an Weihnachten nicht nach Hause dürfe. „Da habe ich riesige Angst bekommen, dass ich meine Eltern nie wiedersehen würde. Todesangst habe ich gehabt.“

Zum ersten Mal an einem fremden Ort

Sabine Schwemm war damals zum ersten Mal allein von zu Hause weg an einem fremden Ort. Ihre Eltern hatten sie zu einer Kinderkur nach Bad Salzdetfurth bei Hildesheim geschickt: ins „Waldhaus“, ein schmuckes Fachwerkhaus mit Walmdach, Erker, Balkon und Solebad, getragen von einer Stiftung innerhalb der evangelischen Inneren Mission. Die Eltern dachten, sie täten ihrer Tochter etwas Gutes. Frische Luft und gutes Essen sollte es geben, damit die Kinder zu Kräften gelangten. Doch es kam völlig anders. „Ich habe mich allein, verlassen und ausgeliefert gefühlt“, sagt Schwemm und steigt erneut den steilen Weg hinauf zu dem Ort, an dem einst das Kurheim stand. Tausenden erging es damals ebenso wie ihr.

Jetzt erhalten die sogenannten „Verschickungskinder“ erstmals in Deutschland einen festen Erinnerungsort. Denn das Diakonische Werk in Niedersachsen will als Nachfolgerin der Inneren Mission am kommenden Samstag (16. März) vor dem Museum von Bad Salzdetfurth eine Gedenkstele aufstellen, die an das Leid der Kinder erinnert. Nach jüngsten Schätzungen waren es zwölf Millionen Jungen und Mädchen, die in der Nachkriegszeit auf Kosten der Krankenkassen in solche Heime verschickt wurden. Das Ziel war, die Kinder aufzupäppeln, denn viele waren damals unterernährt. Zudem hatten viele Familien weder Zeit noch Geld für einen Urlaub.

„Tanten“ pflegten eine Art schwarze Pädagogik

Der Erfolg wurde oft daran gemessen, ob die Kinder an Gewicht zugenommen hatten. Deshalb wurde ihnen häufig ein kalorienreicher Brei verabreicht, der aber alles andere als lecker schmeckte, wie Sabine Schwemm sich erinnert: „Ekelhaft“, sagt sie, „man musste sich das Essen richtig reinquälen.“ Wer nicht aufaß, musste so lange am Tisch sitzen bleiben, bis der Teller leer war. Einige Kinder spuckten das Essen wieder aus und wurden dann gezwungen, das Erbrochene erneut zu essen.

Die Betreuerinnen trugen eine blaue Tracht, weiße Schürzen und eine Kopfbedeckung. „Tanten“ wurden sie genannt. Viele seien noch jung und wenig ausgebildet gewesen, erzählt Sabine Schwemm im Rückblick. Und sie pflegten eine Art schwarze Pädagogik, die auf Angst und Strafen setzte. Zum Beispiel, wenn ein Kind ins Bett machte: „Dann mussten wir im Nachthemd in den Waschraum kommen und dort stundenlang in der Ecke stehen und die Wand anstarren.“

Ihr gelber Teddy aus Kindertagen erinnert Sabine Schwemm bis heute an die Zeit im Heim. Mit ihm verbindet sie ein traumatisches Erlebnis: Denn schon bald nach ihrer Ankunft im „Waldhaus“ fingen die älteren Kinder an, sie zu drangsalieren. Sie nahmen ihr den Teddy weg, rissen ihm die Augen aus und warfen diese aus dem Fenster. „Ich habe gestrampelt, geschrien, gekratzt und gebissen, aber die anderen waren stärker.“ Als wenig später eine „Tante“ ins Zimmer trat, wurde jedoch Sabine ausgeschimpft, die heulend auf dem Boden saß.

Sabine Schwemms gelber Teddy aus Kindertagen
Sabine Schwemms gelber Teddy aus Kindertagenepd-Bild / Jens Schulze

Was in Bad Salzdetfurth geschah, sei alles andere als ein Einzelfall gewesen, sagt Anja Röhl von der bundesweiten „Initiative Verschickungskinder“: „Solche Dinge hören wir fast aus jedem Heim.“ Rund 1.900 Verschickungsheime hat der Verein bisher gezählt. Sie lagen oft an der See, in den Bergen oder in Kurorten. Seitdem die ehrenamtliche Initiative vor einigen Jahren Forschungen zu den Heimen begonnen hat, haben sich Tausende früherer Kurkinder gemeldet und ähnliche Erfahrungen geschildert. Mehr als 46.000 Menschen haben eine Petition unterzeichnet, die eine staatliche Aufarbeitung fordert.

Heim wird mit 20 Todesfällen in Verbindung gebracht

In Bad Salzdetfurth überschlugen sich im Frühjahr 1969 die Ereignisse: Zwischen März und Mai musste das „Waldhaus“ drei tragische Todesfälle vermelden. Stefan (7) aus Obernkirchen fiel um, nachdem er zum hastigen Essen gezwungen wurde. Kirsten (6) aus Hamburg starb an einer Infektion, zudem fanden sich Speisereste in ihrer Lunge. André (3) aus Berlin wurde von älteren Kindern zu Tode geprügelt. „Ich habe noch Glück gehabt“, sagt Sabine Schwemm. Forschende sind bisher auf rund 20 Todesfälle in den Heimen gestoßen. In den Akten sind sie als Unglücksfälle vermerkt.

An die Todesopfer werde die Gedenkstele in besonderer Weise erinnern, sagt der niedersächsische Diakonie-Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke. Das „Waldhaus“ selbst wurde Ende 1969 geschlossen und später abgerissen.

Sabine Schwemm deutet auf eine Parkfläche am Ortsrand zwischen Eichen und Buchen: „Da hat es gestanden, da oben.“ Das Leid der Verschickungskinder dürfe nicht vergessen werden, mahnt sie: „Man kann daraus lernen, dass man genau hinschauen muss – dorthin, wo hilflose Menschen sind.“