So sieht ein Betroffener die Missbrauchsstudie

In den 1980-er Jahren wurde er selbst missbraucht. Nach der Vorstellung der Studie wünscht sich der Hamburger Kirchenmusiker Matthias Hoffmann-Borggrefe vor allem eines: Täter und Opfer finden.

Matthias Hoffmann-Borggrefe fragt sich, ob es weitere Betroffene gibt
Matthias Hoffmann-Borggrefe fragt sich, ob es weitere Betroffene gibtNadine Heggen

Der Hamburger Kirchenmusikdirektor Matthias Hoffmann-Borggrefe ist irritiert über die Ergebnisse der Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. „Ich empfinde es als unglaublich, dass die Landeskirchen es nicht geschafft haben, alle Daten offenzulegen. Da drängt sich für mich schon die Frage auf, ob sie es denn überhaupt wollten“, sagte der 60-Jährige dem Evangelischen Pressedienst (epd). Hoffmann-Borggrefe war selbst in seiner Kirchenmusik-Ausbildung in den 1980-er Jahren in Düsseldorf sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen.

Seinem Empfinden nach gehe es immer noch darum, das Ansehen der Institution Kirche zu schützen. Das Forscherteam hatte bei der Veröffentlichung der Studie erklärt, aufgrund der mangelhaften Datenlage sei nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“ ans Licht gekommen. „Der Rest aber, der ganze restliche Eisberg, hat nicht die Kraft, seine Stimme zu erheben. Nicht abarbeiten, sondern aufarbeiten sollte jetzt die Devise sein“, erklärte Hoffmann-Borggrefe, der über 20 Jahre lang Kantor und Organist an der Hamburger Hauptkirche St. Nikolai war.

Missbrauch: „Weggeschickt wie ein Nestbeschmutzer“

Im Umfeld von Gemeinden, Heimen, Schulen, Ausbildungsstätten müsste nach weiteren Opfern und Tätern gesucht werden. Meist beschränke sich der Umgang mit Betroffenen bislang lediglich darauf, diejenigen, die sich meldeten, schnell abzuarbeiten und maximal mit kleinen Geldsummen ruhig zu halten, sagte der Kirchenmusiker.

Wie die Kirche mit ihm als Betroffenen umgegangen sei, sei fast noch schlimmer gewesen als die sexuelle Gewalterfahrung selbst. „Als ich den Vorfall 1989 zum ersten Mal meldete, wurde ich von der Oberkirchenrätin einfach weggeschickt wie ein Nestbeschmutzer. Auch später hat kaum jemand verstanden, was ich durchmache. Kirche muss uns da mehr beistehen“, erklärte er.

Studie zeigt „sehr selektive Stichprobe“

Hoffmann-Borggrefe war 1984 in seiner Ausbildung zum Kirchenmusiker an der Robert-Schumann-Musikhochschule in Düsseldorf von seinem damaligen Professor vergewaltigt worden. Die Evangelische Kirche im Rheinland hatte den Fall 2011 anerkannt. Bis heute leide er an den Folgen, seit zwölf Jahren mache er eine Traumatherapie, sagte Hoffmann-Borggrefe. „Aufgrund meiner psychischen Erkrankung bin ich mittlerweile schwerbehindert und kann nicht mehr arbeiten. Mein Leben ist zerstört.“

Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland beauftragtes Forscherteam hatte in Hannover eine Studie vorgestellt, in der für den Zeitraum von 1946 bis 2020 von bundesweit mindestens 2.225 Betroffenen sexueller Gewalt und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede ist. Die Zahlen seien allerdings in einer „sehr selektiven Stichprobe“ ermittelt worden und bildeten keineswegs das Ausmaß sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie ab, hieß es.