Suizidprävention: 2024 droht zum verlorenen Jahr zu werden

Bis Ende Januar sollte die Bundesregierung Vorschläge für eine bessere Suizidprävention in Deutschland vorlegen. Doch ein fertiges Konzept gibt es bisher nicht.

Am Suizidpräventionstag demonstrieren diese Berliner vor dem Brandenburger Tor am 10. September 2014 (Archiv)
Am Suizidpräventionstag demonstrieren diese Berliner vor dem Brandenburger Tor am 10. September 2014 (Archiv)Imago / epd-bild

So viel Einmütigkeit war selten: Im vergangenen Juli stimmten 688 Abgeordnete des Bundestages für einen Ausbau der Suizidprävention in Deutschland. Sie forderten, dass die Bundesregierung bis zum 31. Januar 2024 eine Suizidpräventionsstrategie vorlegt. Doch mittlerweile sieht es so aus, als versande das Thema angesichts von Krisen und Haushaltsengpässen.

Das Konzept für eine Strategie liegt nicht vor. Denkbar gering sind auch die Mittel des Bundeshaushalts 2024 für Prävention. Bedroht ist darüber hinaus die Arbeit des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro), eines bundesweit agierenden Netzwerks für Erforschung und Austausch zu Suizid, Suizidalität und Suizidprävention.

Suizid: Anstieg in 2022 registriert

Dabei hatte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Suizidbeihilfe von 2020 ganz deutlich gemacht: Wenn die Richter einerseits den frei verantwortlichen Suizid als einen wichtigen Ausdruck von Selbstbestimmung werten, sollte der Staat zumindest bei den nicht freiverantwortlichen Selbsttötungen gegensteuern.

Wie nötig das wäre, zeigen die aktuellen Statistiken: 2022 nahmen sich bundesweit 10.119 Menschen das Leben. Dies entspricht einem Anstieg um 9,8 Prozent oder 904 Fällen gegenüber dem Vorjahr. Erstmals seit acht Jahren liegt die Zahl wieder über 10.000; zudem ist der prozentuale Anstieg binnen eines Jahres der stärkste seit 1980. Eine bedenkliche Entwicklung: Noch immer sterben in Deutschland deutlich mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen.

Für die Grünen-Politikerin Kirsten Kappert-Gonther, eine der Sprecherinnen des interfraktionellen Parlamentskreises Suizidprävention, ist es deshalb wichtig, dass sowohl die Suizidpräventionsstrategie auch das im Antrag geforderte Suizidpräventionsgesetz schnell verabschiedet werden. Beides müsse auch „finanziell hinterlegt werden“, sagte sie der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Doch davon sieht man derzeit wenig: Zwar hat der Haushaltsausschuss des Bundestags im Januar den Etat für Präventionsmaßnahmen (unter anderem Suizidprävention) gegenüber früheren Entwürfen aufgestockt – allerdings nur von 850.000 Euro auf 1,764 Millionen Euro. Wie viel davon für Suizidprävention reserviert ist, ist nicht klar.

Kritik von Bundesärztekammer

Die Bundesärztekammer reagierte mit massiver Kritik: Suizidprävention sei ungenügend im Haushalt berücksichtigt, erklärte Kammerpräsident Klaus Reinhardt. „Im Gegenteil scheint nicht einmal gewährleistet, dass die bisherigen Akteure und Strukturen vollständig erhalten bleiben.“ 2024 dürfe nicht zum verlorenen Jahr für die Suizidprävention werden.

Was gebraucht würde, hatten die Experten des NaSPro im November vorgerechnet: Notwendig wäre für 2024 ein Fonds in Höhe von mindestens 20 Millionen Euro. Damit sollte unter anderem eine zentrale Ansprechstelle zur Suizidprävention mit einer allzeit erreichbaren Telefonnummer finanziert werden: Bei ihr sollten Betroffene, Angehörige, Helfende und Interessierte schnell und kompetent beraten werden.

CDU: Lauterbach missachtet Parlament

Für die Experten einschneidend ist, dass die Finanzierung des NaSPro ab Ende April nicht mehr gesichert ist. Ein von dem Netzwerk durchgeführtes Projekt war in den vergangenen drei Jahren mit 450.000 Euro vom Bundesgesundheitsministerium gefördert worden, wie der Leiter Reinhard Lindner der KNA mitteilte. Die Arbeit der rund 80 NaSPro-Expertinnen und Experten aus zahlreichen Fachbereichen sei, gerade nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, extrem wichtig gewesen. „Diese Kooperation mit Abgeordneten, Ministerien, Kirchen, Betroffenenorganisationen und Vertretern des Gesundheitswesens funktioniert nicht ohne Finanzierung“, betonte Lindner.

Dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bis Ende Januar noch nicht das geforderte Konzept für eine verbesserte Suizidprävention vorgelegt hat, traf bei Union und FDP auf scharfe Kritik. CDU-Politiker Michael Brand sprach in der Süddeutschen Zeitung von einer Missachtung des Parlaments. „Die Tausenden Toten durch Suizid sind wichtiger als Cannabis, und Herr Lauterbach sollte sich endlich, und ernsthaft, um dieses ernste Thema kümmern und vernünftige Vorschläge vorlegen, die helfen.“

Laut Zeitung plant die Bundesregierung jetzt, dem Bundestag bis April eine Strategie vorzulegen. Ob, wie vom Bundestag gefordert, bis 30. Juni ein Gesetzentwurf zur Suizidprävention steht, ist ungewiss.