Als Wahlkämpfer ist Timon Dzienus (28) von den Grünen einiges gewohnt. „Gehen Sie einfach sterben“, habe ihm einmal ein Mann entgegnet, dem Dzienus einen Flyer anbot. „Wenn man so was an den Kopf geknallt bekommt, ist das natürlich schon eine Einschüchterung“, sagt der ehemalige Bundessprecher der Grünen Jugend, der bei der Bundestagswahl als Direktkandidat für den Wahlkreis „Stadt Hannover I“ antritt.
An einem kalten, grauen Nachmittag steht Dzienus vor einem Supermarkt im Stadtteil Vahrenwald, neben ihm ein Lastenrad mit Mini-Plakatwand. Einige Passanten lassen sich gern ein Flugblatt geben, andere lehnen ab, die meisten haben es eilig. Unangenehme Begegnungen bleiben Dzienus an diesem Tag erspart – und sind auch sonst die Ausnahme, wie er sagt.
Bedrohlicher ist das Lagebild, wie es die Bundeszentrale für politische Bildung zeichnet. Danach nehmen Attacken auf Wahlkämpfer und Politiker seit Jahren zu. Dass der Ton rauer wird, darauf deuten auch die Kriminalstatistiken des Bundesinnenministeriums hin: Nimmt man verbale und tätliche Angriffe zusammen, wurden die Grünen im vergangenen Jahr erneut am häufigsten zur Zielscheibe. Von Gewaltdelikten wie Körperverletzung und Erpressung war die AfD, wie schon 2023, mit Abstand am häufigsten betroffen.
Wie aufgeheizt die Stimmung mitunter ist, zeigt sich beim Wahlkampfauftakt der AfD Niedersachsen Mitte Januar in Hannover-Misburg. Während vor dem Bürgerhaus die ersten Gäste der Zusammenkunft eintreffen, halten Polizisten die Menschen auf Abstand, die auf dem Parkplatz nebenan protestieren. Sie rufen den Ankommenden Parolen entgegen wie „Ganz Hannover hasst die AfD“. Organisiert wurde die Demo von den Grünen. Auch Lokalpolitiker von SPD und Linkspartei beteiligen sich. Unter den Rednern ist auch Dzienus.
Der Abend bleibt aus Polizeisicht zwar „störungsfrei“. Doch ein paar Dutzend erregter jüngerer Demonstranten sucht am Zaun des Bürgerhaus-Grundstücks die Konfrontation. „Faschistenpack“ und „brauner Dreck“ grölen sie im Chor zu den Menschen herüber, die vor dem Bürgerhaus auf Einlass warten. Zwischen den Gruppen haben sich drei Polizeireiter in Position gebracht.
Unterdessen herrscht im Saal des Bürgerhauses ausgelassene Stimmung. Während sich die Reihen füllen, ertönt vom Flügel „Aber bitte mit Sahne“. Auch Jürgen Alenberg (63) von der AfD-Stadtratsfraktion Langenhagen (Reg. Hannover) ist gekommen. Als er im Auto neben der aufgebrachten Menge vorbeifuhr, habe er sich „schon unwohl“ gefühlt, sagt er. „Man weiß ja nie, wer dabei ist und ob vielleicht ein Stein geworfen wird.“ Insgesamt könne er mit den „Antifa-Leuten“ aber gut leben.
Beim Plakatieren und am Stand habe er in diesem Wahlkampf zum Glück keine Anfeindungen erlebt, fährt Alenberg fort. Die Plakatbeschädigungen überschritten nicht das gewohnte Maß. Grünen-Wahlplakate lägen nach seiner Wahrnehmung deutlich öfter zerstört am Boden. „Auch das finde ich bedauerlich“, betont er. „Das gehört sich nicht. Man muss miteinander fair umgehen.“
Solche Bekenntnisse zu Fairness und Anstand nimmt die Linkspartei der AfD nicht ab. Die „Hetze von AfD und anderen extremen Rechten“ schüre ein Klima der Einschüchterung, in dem „rechte Gewalt“ gedeihe, sagt der Pressesprecher der Linken in Niedersachsen, Ferry Marquardt. Mit faschistischen Methoden solle einer „extrem rechten Machtübernahme“ der Weg geebnet werden.
Übergriffe auf Wahlkämpfer seines Landesverbandes sind Marquardt nicht bekannt. Auch die niedersächsische SPD hat in diesem Wahlkampf solche Übergriffe nicht verzeichnet. Der FDP-Landesverband war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Anders stellt sich die Lage für die CDU dar. Seit dem asylpolitischen Kurswechsel ihres Bundesvorsitzenden Friedrich Merz werden bundesweit Parteieinrichtungen beschädigt, beschmiert und besetzt. Am Rande einer Groß-Kundgebung der „Omas gegen Rechts“ in Hannover skandieren Demonstranten vor einem Wahlkampfstand der CDU lautstark „Ganz Hannover hasst die CDU“. Einige muss die Polizei mit Gewalt vom Stand fernhalten. Es kommt zu Festnahmen.
Ein Sprecher der CDU in Niedersachsen kommentiert anschließend die Ereignisse gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) betont gelassen: Die CDU sei stets am friedlichen Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern interessiert und gern bereit, das Vorgehen der Union im Bundestag zu erläutern, sagt er. „Wir erwarten von den Demo-Veranstaltern, dass sie sich von Hass und Gewalt distanzieren.“
Unter den Demonstranten am CDU-Pavillon war auch Timon Dzienus. „Wir sind die Brandmauer“, sagt er in einem Video, dass er live vor Ort aufgenommen und ins Internet gestellt hat. Anderthalb Wochen vor der Wahl schaut er zufrieden auf die Kundgebungen der letzten Wochen zurück. Dass Proteste gegen rechts auch mal heftiger ausfallen, findet er in Ordnung. „Ich halte es für total wichtig, dass es jungen antifaschistischen Protest gegen den Rechtsruck gibt.“