Zum 85. Geburtstag der US-Künstlerin Vija Celmins

Von Lettland floh sie über Deutschland in die USA – und wurde dort zu einer bedeutenden Künstlerin. In ihrem Werk hat Vija Celmins auch die Erinnerung an den Krieg verarbeitet. Am Mittwoch wird sie 85 Jahre alt.

Zwei Steine, ungefähr eiförmig, hell mit dunkler Marmorierung. Sie scheinen identisch zu sein – und sind es doch nicht. Einer von beiden ist der Natur entnommen, ein Fundstück aus der Wüste – der andere ein Kunstwerk, eine täuschend echte Bronze-Kopie. Mit bloßem Auge lässt sich kaum ausmachen, was Original und was Nachahmung ist. Es ist ein typisches Werk für Vija Celmins, eine hyperrealistische Künstlerin. In den USA gilt sie als eine der bedeutendsten Künstlerinnen der Gegenwart; hierzulande ist sie wenig bekannt. Zu ihrem 85. Geburtstag am Mittwoch lohnt es sich, die Zeichnerin, Malerin und Grafikerin zu entdecken.

Geboren 1938 in Riga, habe das Chaos der Kriegsjahre ihre Kindheit und damit ihr Leben entscheidend geprägt, sagte Celmins in einem Interview. Im Alter von fünf Jahren floh sie mit ihrer Familie zunächst nach Deutschland, wo sie in einer lettischen Flüchtlingsgemeinschaft in Esslingen lebte und zur Schule ging. Mit Hilfe des Church World Service konnte die Familie 1948 in die USA übersiedeln, wo sie vier Monate in New York lebte und dann in Indianapolis, „einem sicheren Plätzchen in der Mitte des Landes“, wie Celmins später schrieb.

Da sie zunächst kaum Englisch verstand, drückte sich das junge Mädchen mit Zeichnungen aus und ging 1962 nach Kalifornien. Der „Golden State“ sollte für sie eine Inspirationsquelle werden: Sie arbeitete in einem Atelier am Pazifik, fotografierte den Ozean, machte 1965 in Los Angeles ihren Master in Kunst.

Die 18 Jahre, die Celmins dort lebte, waren eine Phase der Selbstfindung – auch und vor allem als Künstlerin. Zunächst habe sie versucht, so zu malen wie die New Yorker Schule, schreibt sie rückblickend: „Aber ich weiß, dass ich meinen eigenen Weg finden muss.“ Sie malte Alltagsgegenstände akkurat ab, führte Tagebuch über ihre Beobachtungen von Licht, Wasser und Himmel auf abendlichen Spaziergängen. Nach einer Ausstellung ihrer Werke konstatiert sie: „Ich habe mich von der Malerei befreit und benutze nur noch Papier und Bleistift – das absolut wesentliche.“

Im Studio seien Erinnerungen an ihre Kindheit wieder aufgekommen, erklärte Celmins einmal: „Die brennenden Häuser, die Flugzeuge, die lettische Schule in Deutschland, mein Radiergummi, meine kleinen Stifte.“ Gegenstände, die sie künstlerisch bearbeitete: Sie schuf nicht nur Kopien von Steinen, sondern auch von Schiefertafel und Radiergummi, die Installation „House“, deren Außenseite Kriegsszenen zeigt, während sie von innen mit Plüsch ausgekleidet ist. Andere ihrer Werke erinnern an kleine Fenster, richten den Blick ins All und auf den Sternenhimmel.

Ihre Arbeiten entstünden tröpfelnd, sagte die Künstlerin, „eines nach dem anderen, über einen langen Zeitraum“. 1981 zog sie nach New York, wo sie bis heute lebt. Meer und Wellen blieben ihr als Motiv erhalten, oft in Grautönen abgebildet und in der Schwebe zwischen Hyperrealismus und kleinen Irritationen, die Betrachterinnen und Betrachter zum genauen Hinsehen anregen sollen. Für sie selbst sei dies „eine weitere Komplikation, um mich zu verlangsamen, damit ich mehr Zeit mit dem Bild verbringen kann“.

2018 war in San Francisco eine große Retrospektive auf Celmins‘ Werk zu sehen. „Ich frage mich nach dem Sinn all dieser künstlerischen Arbeit“, hielt Celmins damals fest. Sie sehne sich nach „ein wenig Gartenarbeit“, aber: „Ich schlüpfe ins Atelier und arbeite.“

In diesem Sommer zeigte die Hamburger Kunsthalle einige ihrer Werke – gegenübergestellt jenen des deutschen Jahrhundertkünstlers Gerhard Richter. Beide teilen Kriegs- und Migrationserfahrungen und setzen sich mit der Farbe Grau auseinander. Celmins, die für die Ausstellungseröffnung eigens in die Hansestadt reiste, wies auch auf Unterschiede hin: So arbeite Richter vielfach eher abstrakt, während sie selbst näher an der Realität bleibe. Bereits fünf Jahre zuvor hatte sie einen Wunsch an Besucherinnen und Besucher formuliert: „Ich hoffe, das Publikum kann dem Impuls widerstehen, dass alles hier eine Bedeutung hat. Einfach nur schauen würde reichen.“