Zehn Jahre nach Angela Merkels berühmtem Satz “Wir schaffen das!” wird in Deutschland weiter darüber gestritten, wie dieses Versprechen zu deuten ist – und ob das Land die Aufnahme von Millionen Flüchtlingen aus Asien, Afrika und Europa tatsächlich schaffen kann. Expertinnen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung sehen Deutschland grundsätzlich in der Lage dazu. Auch wenn angesichts vieler Probleme die Integration noch nicht in allen Bereichen gelungen sei, gebe es weiter gute Chancen, die Situation nachhaltig zu verbessern.
Ende 2024 waren Insgesamt 3,3 Millionen Schutzsuchende in Deutschland registriert – aus der Ukraine rund 1,1 Millionen, aus Syrien 710.000, gefolgt von Afghanistan mit 350.000 und dem Irak mit 190.000 Menschen. “Im Laufe der vergangenen zehn Jahre sind mehr Schutzsuchende nach Deutschland gekommen, als heute registriert sind. Einige von ihnen sind wieder ausgereist, der überwiegende Teil ist jedoch geblieben”, berichtet Institutsmitarbeiterin Lenore Sauer.
Demographie: Ohne Ausländer wäre Deutschland älter
Mit Blick auf die Alterung der Bevölkerung profitiere Deutschland von der Zuwanderung. So standen Ende 2024 im Gesamtdurchschnitt 37 Menschen im Rentenalter 100 Personen zwischen 20 und 65 Jahren gegenüber. In einer Bevölkerung ohne Menschen mit Migrationshintergrund würden mindestens 46 Menschen im Rentenalter auf 100 potenziell Erwerbstätige kommen. “Die Zahlen belegen, dass ohne die ausländische Bevölkerung beziehungsweise Menschen mit Migrationshintergrund die Abfederung des demografischen Wandels noch schwieriger wäre”, so Sauer.

Viele Zugewanderte seien inzwischen eine Stütze der deutschen Volkswirtschaft: “Nach sieben, acht Jahren arbeiten etwa zwei Drittel der 2015/16 geflüchteten Frauen und Männer”, erklärt die Direktorin des Bevölkerungsinstituts, C. Katharina Spieß. Bei Männern gebe es teils höhere Quoten im Vergleich zur männlichen Bevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit. Auch Menschen aus der Ukraine kommen hierzulande laut Studien des Institutes immer besser im Erwerbsleben an.
Migration: Sorgen mit Blick auf Zuwanderung
“Wir sehen keine bewusste und signifikante Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme”, unterstreicht Spieß. Natürlich gebe es Anreize, die auf manche attraktiv wirken – dies sei jedoch nicht der Grund für Millionen Menschen, die Heimat zu verlassen und den beschwerlichen Weg nach Deutschland auf sich zu nehmen. Eine wissenschaftlich definierte Obergrenze, bis zu der Deutschland Flüchtlinge aufnehmen könne, kenne sie nicht.
Es gelte aber, sich als Staat und Gesellschaft ehrlich zu machen. “Was kann der Staat leisten? Wie sieht die Bereitschaft der Bevölkerung aus? Das kann innerhalb von Deutschland verschieden sein?”, fragt die Bevölkerungsexpertin. So gebe es in Ostdeutschland auch 35 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung mehr Sorgen mit Blick auf Zuwanderung. Hierbei könne auch der kulturelle Hintergrund geflüchteter Mitmenschen eine Rolle spielen.
Mehr tun für Willkommenskultur
So seien Menschen aus der von Russland überfallenen, christlich-orthodox geprägten Ukraine meist anders begrüßt worden und hätten andere rechtliche Voraussetzungen gehabt als solche aus Staaten mit überwiegend muslimischer Bevölkerung. Generell für eine Integration hinderlich seien bürokratische Vorgaben wie Beschäftigungsverbote für Geflüchtete, Massenunterkünfte und Wohnort-Zuweisungen sowie lange Anerkennungsprozesse.
“Bund, Länder und Kommunen tun bereits sehr viel – wir alle könnten mehr tun, um die Willkommenskultur zu fördern”, so Spieß. Statt über etwa vermeintlich oder tatsächlich kaum Deutsch sprechende Kinder in Klassen zu streiten, brauche es mehr Unterstützung für Lehrer und Lehrerinnen. “Es braucht auch mehr Sozialpädagogen in solchen Klassen und eine vorschulische Phase des Spracherwerbs”, erläutert Spieß, die auch Bildungsökonomin ist.
Expertin: Bessere Sprachförderung für kleine Kinder
Sie plädiert dafür, Kindern ab dem zweiten Lebensjahr Sprachförderung in Kitas zu ermöglichen. “Wenn wir diese Kinder stärker fördern, ist das die gesellschaftlich größte Rendite, die wir überhaupt erzielen können.” Wobei bislang nicht alle Potenziale gehoben würden. Zugewanderte Mütter arbeiteten oftmals nicht so viel, wie sie es könnten und vielfach auch wollten. Dafür bräuchte es in bestimmten Regionen etwa mehr Angebote der Kindertagesbetreuung.
Auch arbeiteten zu viele Menschen unter ihrem Ausbildungsniveau, weil berufliche Abschlüsse und Kenntnisse in Deutschland häufig nicht anerkannt würden. Das mindere den volkswirtschaftlichen Wert der Beschäftigung dieser Arbeitnehmer. Relativ gut qualifiziert seien etwa Menschen aus der Ukraine, von denen viele nun aus Sprachkursen kämen und damit als potenzielle Fachkräfte zur Verfügung stünden.
