„Wir haben alle eine gemeinsame Quelle“

Ingo Hofmann, der Sprecher der deutschen Bahai, zum 200. Geburtstag des Religionsgründers Baha‘u‘llah

Vor 200 Jahren, am 12. November 1817, wurde Baha'u'llah, der Gründer der Bahai-Religion, im Iran geboren. Was die Bahai bewegt, erläutert Ingo Hofmann, der Sprecher der deutschen Bahai-Gemeinde, im Interview mit Angelika Prauß.

Herr Hofmann, wer sind die Bahai, und was machen sie in Deutschland?
Die Bahai-Religion gilt als die jüngste in der Reihe der Weltreligionen. In Deutschland leben Bahai seit mehr als einem Jahrhundert, die erste Gemeinde wurde im Raum Stuttgart gegründet. Derzeit zählen wir etwa 6000 Anhänger in rund 100 Gemeinden.
Nach unserem Glauben haben alle Religionen eine gemeinsame Quelle und Ursprung; es verbindet sie sehr viel mehr als sie trennt. Dieser gemeinsame Kern aller Religionen ist ein zentraler Gedanke. Leider gerät er bei den meisten Konflikten völlig aus dem Blick. Wir Menschen sollten deshalb lernen, das Einende – und nicht die Unterschiede, Gräben und Konflikte – zu sehen. Diesen Lernprozess voranzutreiben ist ein Grundanliegen der Bahai.

Welche Bedeutung hat die Religionsgemeinschaft heute?
Wir sind noch in den Anfängen. Für Religionen sind 200 Jahre keine lange Zeit. Inzwischen gibt es Gemeinden in aller Welt. Wir gehen von sechs Millionen Bahai aus, die über alle Kontinente verstreut sind. Vor allem in Südamerika, Afrika und ganz besonders stark in Indien. Dort gibt es allein über eine Million Bahai. Wir verzeichnen keine explosive Entwicklung, sondern eher ein stetiges Wachstum. Unsere Gemeinschaft wächst in dem Maße wie das Bewusstsein dafür, dass die Erde und die Menschheit eine Neuausrichtung benötigen und im geistigen Sinn eine Einheit sind. Je mehr dieses Bewusstsein wächst, umso mehr wird auch die Bahai-Gemeinde Fuß fassen.

Die Bahai vertreten eine weltoffene, friedliebende Haltung. Welche Bedeutung hat diese gera-de in der heutigen Zeit?
In den letzten Jahrzehnten haben wir erlebt, dass die Erde durch die Globalisierung unglaublich schnell zusammengewachsen ist – und dass sich daraus sehr viele ungeahnte Konflikte ergeben haben. Baha’u’llah sagt, dass die Menschheit nicht mehr nach den Mustern der Vergangenheit leben kann, sondern ein neues Gesellschaftsbild benötigt: Die Menschen müssen ihre Vorurteile und Konfliktthemen – ob in religiöser, ethnischer oder nationaler Hinsicht – abbauen und den Blick in die Zukunft richten. Ohne Einigung der Menschheit ist kein Frieden möglich. Der Gedanke, dass die Menschheit in eine Zukunft ohne Kriege steuert und eine starke Verbundenheit spürt, das ist eine zentrale Perspektive der Bahai.

Inwiefern werden die Bahai auch politisch, sozial oder in der Ökumene aktiv?
Unsere Gemeinden engagieren sich nicht parteipolitisch – eher interreligiös und ökumenisch. In unseren Andachten lesen wir aus den Schriften aller Religionen – aus dem Koran, dem Alten und Neuen Testament, der Thora, buddhistischen und hinduistischen Schriften. Das zeigt die große Wertschätzung, die Baha'u'llah allen Religionen entgegengebracht hat.
Die Bahai-Gemeinden öffnen sich deshalb auch stark nach außen und versuchen, vor Ort gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, um auf die Einheit der Menschheit hinzuwirken. In Deutschland engagieren sich Bahai beispielsweise ganz konkret für die Menschenrechte, den Abbau von Vorurteilen und Rassismus und für den Naturschutz.

Basierend auf den Lehren Baha'u'llahs wurden 1912 zwölf ethische Grundsätze formuliert, die sehr an Hans Küngs 1995 formulierte Weltethos-Gedanken erinnern…
Baha'u'llah hat die Menschen von Anfang an darauf hingewiesen, dass es gemeinsame Werte geben muss, weil nur dadurch Gräben überwunden werden können. Die Bahai-Schriften sagen, dass die Menschheit zu einer echten Gemeinschaft zusammenwachsen muss, um Herausforderungen zu meistern – nicht nur im geistig-spirituellen Sinn, sondern auch gesellschaftlich und politisch. Als Küng Ende des 20. Jahrhunderts seine Thesen formulierte, war die Akzeptanz eines gemeinsamen ethischen Fundamentes schon größer geworden. Die Erkenntnis, dass die Religionen einander nicht mehr Feind sein dürfen, sondern einander verstehen sollten, lag quasi in der Luft. Küng hat diese Entwicklung aufgegriffen.