Warum das deutsche Bildungssystem dringend eine Reform braucht

Das deutsche Bildungssystem muss reformiert werden. Was Hoffnung macht: Es gibt schon ein paar gute Beispiele, wie Uwe Baumann in seinem Gastkommentar schreibt.

Mädchen mit Daumen nach oben
Mädchen mit Daumen nach obenHablo Institut / CCO

Vor dem Jahreswechsel fragte die Tochter plötzlich, warum sie in der Schule so wenig für ihr Leben lernt. Sie könne zwar erklären, was bei der Schlacht von Lugdunum im ­Römischen Reich 179 nach Christus passierte oder den Untergang der Severer-Dynastie herleiten. Das waren geschichtliche Ereignisse voller Brutalität, über die aktuellen Kriege und Konflikte in der Welt würde sie im Unterricht jedoch nichts erfahren. Auch nichts zu den Bauern­protesten vor dem Brandenburger Tor oder darüber, warum die Preise an der Supermarktkasse so stark ­gestiegen sind.

Bildungssektor im Schneckentempo unterwegs

„Schule ist so eine krasse Parallelwelt“, resümierte sie frustriert, als sie vor ein paar Wochen einen Vortrag zu Aufbau und Funktionsweise eines Kernkraftwerkes vorbereitete. Über eine Technologie, aus der Deutschland mit Beschluss des Bundestages bereits im Juni 2011 ausgestiegen ist. Der Kalenderspruch „In der Schule lernt man fürs Leben“ klang schon zu meiner Zeit beinahe spöttisch. Erfolgreiche Lernformate wie der von ARD und ZDF produzierte YouTube-Kanal „Wissen2go“ fragen heute allerdings immer noch, warum sich Schule an starre Strukturen klammert. Warum logisches Denken nicht viel mehr gefördert und wesentlich stärker auf Persönlichkeitsentwicklung gesetzt wird.

Uwe Baumann, Kommunikationsissenschaftler
Uwe Baumann, Kommunikationsissenschaftlerprivat

Obwohl man sich an modernen Bildungslandschaften in europäischen Nachbarländern orientieren könnte, bleibt das deutsche Bildungssystem Dauerpatient. Als ­gäbe es weder bildungspolitische ­Entwicklungen in der Welt noch ­beschleunigte Digitalisierungsprozesse oder anwendungsbereite künstliche Intelligenzen. Als könne man die andauernden Alarmsignale aus der Wirtschaft ignorieren und weitermachen, als wäre alles in bester Ordnung. Der offenbar mit Schweröl betriebene Schultanker bewegt sich scheinbar aus Trotz lediglich im Schneckentempo.

Auswendig lernen, statt Zusammenhänge verstehen

Noch immer steht auswendig gelernter Unterrichtsstoff hoch im Kurs, zumindest bis zur nächsten Klassenarbeit. Aber Zusammenhänge verstehen, Dinge begreifen oder moderne Technologien anwenden? Dünnes Eis, zumal hierzulande die soziale Herkunft seit Jahrzehnten stark – zu stark – über Lernerfolge entscheidet. Während der Pandemie verbesserten sich Leistungen und Noten der Tochter, bei anderen brachen sie ein.

Digitale Ausrüstung, verfügbare Zeit der Eltern und private Lern­atmosphäre entschieden über Erfolg oder Scheitern am heimischen Schreibtisch.  Es gab danach Kompensationsangebote wie Förder­unterricht, Wegfall von Prüfungen oder weniger strenge Benotungskriterien, aber eine echte Aufarbeitung des Mangels fand nicht statt. Die Lücken in den Lernfortschritten blieben, Lehr- und Ausbildungs­betriebe haben bis heute mit den Folgen zu kämpfen.

Deutlich wird, dass Schulbildung große Auswirkungen auf die Gesellschaft hat. Eigentlich eine Binsenweisheit, aber offenbar wird nicht verstanden, dass Schülerinnen und Schüler mit ihren Begabungen weit mehr Potenzial entwickeln könnten – Begeisterung sogar – die in einer modernen Gesellschaft demokratische Prozesse fördern und zu ­echten Verbesserungen der Lebensverhältnisse beitragen würden.

Gefahr für unsere Demokratie

Apropos – was Schülerinnen und Schüler wollen, spielt in der Bildungspolitik allenfalls eine Nebenrolle. Die Tochter mag Physik und Chemie nicht übermäßig, für ihren späteren Beruf werden diese Fächer keine Rolle spielen. Dafür liebt sie Politikwissenschaften, Geschichte, Philosophie und Biologie, die ab der 11. Klasse jedoch in seltsam kom­plizierte Kursraster und Kombinationsverfahren gezwungen werden und ihren Begabungen nicht mehr gerecht werden. Diese Art des starren Lernens bezeichnete der Wissenschaftsjournalist Harald Lesch schon vor sieben Jahren im TV-Format Terra X als „Mist“. Das ist zumindest ehrlich, dennoch muss jetzt politisch gehandelt werden. Weiteres Zögern wäre fatal, denn laut Lehrergewerkschaft GEW werden bis 2035 auch noch über 500 000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.

Wie es besser geht, machen nicht nur Dänemark oder Schweden, ­sondern auch Evangelische Schulen in Deutschland vor. Aus reform­pädagogischen Ansätzen wuchsen achtsame Bildungsorte innerhalb eines praktischen Lernnetzwerkes. Lehrerinnen und Lehrer sind zu Vertrauten und Ansprechpartnern für kleinere alters- oder fächerübergreifende Lernprojekte geworden, von denen alle profitieren. ­Lernen macht dort sogar Spaß, beinahe kaum zu glauben. Ich würde gern der Tochter mehr Mut machen und sicher sein, dass ihr Schule mehr und mehr entgegenkommt und sie als Lernende ernstnimmt. Das ist die letzte Chance, um Bildung für alle zu ermög­lichen und über die Motivation in der Schulzeit zu einer lebenslang lernenden Gesellschaft zu gelangen. Alles andere wäre eine Gefahr für unsere Demokratie.

Uwe Baumann ist Lektor im Evangelischen Kirchenkreis Berlin Süd-Ost und Kommunikationswissenschaftler