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Vor 75 Jahren marschierte Chinas Armee in Tibet ein

Der Dalai Lama war noch ein Teenager, als Chinas Volksbefreiungsarmee in Tibet, in sein Land, einmarschierte. 75 Jahre später, im Spätherbst seines Lebens, harrt er immer noch im Exil aus – Peking sitzt fest im Sattel.

Gesellschaftlich-ideologisch trafen da zwei Extreme aufeinander: In China hatte der kommunistische Revolutionär Mao Tse-tung die Macht übernommen und eine “Volksrepublik” mit straffer Einparteienherrschaft ausgerufen. Im angrenzenden Tibet war ein feudales, mittelalterlich anmutendes Gesellschafts- und Agrarsystem konserviert, mit einem buddhistischen Gottkönig an der Spitze: dem Dalai Lama. Politisch, kulturell und wirtschaftlich dominierte die buddhistische Geistlichkeit der Klöster. Mehr “Konterrevolution” ging in den Augen des neuen Peking gar nicht. Der macht- wie sendungsbewusste Mao befahl: beseitigen!

Vor 75 Jahren, am 24. Oktober 1950, marschierte Chinas “Volksbefreiungsarmee” in Tibet ein – just am fünften Jahrestag der Gründung der UNO. Appelle aus der Heiligen Stadt Lhasa an die Vereinten Nationen in New York verklangen; der “Sitz der Götter” war fortan von Kommunisten besetzt. Das Oberhaupt der Tibeter, die 14. Inkarnation des Dalai Lama, war da noch ein Teenager.

Im Mai 1951 oktroyierte Peking Tibet ein 17-Punkte-Abkommen über seine “friedliche Befreiung”. China übernahm damit auch formell die Kontrolle und erhielt nachträglich die “Erlaubnis” zur Stationierung von Truppen. Tibet wurde zu einem integralen Bestandteil Chinas erklärt. Im Gegenzug erhielt der Mönchsstaat eine “innere Autonomie” zugesichert.

Zunächst herrschte Grabesruhe auf dem “Dach der Welt”. Doch in der zweiten Hälfte der 50er Jahre wuchs der Widerstand gegen Chinas Präsenz. Auf bewaffnete Widerstände reagierte Peking mit noch mehr Truppen, mit vereinzelten Strafaktionen – und mit Drohungen gegen die Sicherheit des Dalai Lama.

Anfang 1959 war die Stimmung in Lhasa angesichts von Unruhen im Osten des Landes höchst angespannt. Sollte der Dalai Lama entführt werden? Rund 30.000 Menschen zogen vor den Sommerpalast, um den 23-Jährigen zu beschützen. Die Lage drohte aus dem Ruder zu laufen. Doch noch zögerte die Armee durchzugreifen; in Peking hatte das Mao-Regime dieser Tage noch drängendere Krisen zu bewältigen.

Die Führung der Tibeter entschied sich zur Flucht. Nach 14 Tagen Marsch und rund 400 Kilometern erreichte der Dalai Lama die Grenze zu Indien. Im Exil, hoffend, vielleicht schon bald zurückkehren zu können, wurde er von internationalen Medien neugierig begrüßt. In der Heimat hatte unterdessen ein Massaker stattgefunden: Blutig warfen die Besatzer den Aufstand in Lhasa nieder. Im Garten des Sommerpalastes türmten sich Hunderte Leichen.

75 Jahre sind seit dem Einmarsch von 1950 vergangen. Und seit Jahrzehnten macht Peking Tibet durch Umsiedlung und “Stadtsanierungen” immer chinesischer. Noch immer residiert der 14. Dalai Lama im indischen Exil in Dharamsala. Er ist inzwischen 90 Jahre alt. Wer wird eines Tages auf ihn folgen?

Im Lauf der Jahre hatte der Dalai Lama wiederholt Vorschläge zum verfahrenen politischen Status Tibets gemacht. Doch Peking will von einer echten Autonomie nichts wissen. Dort weiß man: Die Zeit arbeitet für die Besatzer; die Welt gewöhnt sich mehr und mehr an den Status quo.

Nach erneuten blutigen Zusammenstößen 2008 in Lhasa gab der Dalai Lama 2011 seine weltliche Macht – beziehungsweise Machtlosigkeit – an einen gewählten Ministerpräsidenten ab. Die religiöse Dimension des Amtes als Oberhaupt des tibetischen Buddhismus soll aber erhalten bleiben.

Zu seinem 90. Geburtstag im Juli betonte der 14. Dalai Lama noch einmal die Unabhängigkeit des tibetischen Buddhismus von China in der Nachfolge-Frage. Die alleinige Befugnis für die Findung eines 15. Dalai Lamas liege bei der Stiftung Gaden Phodrang. Er wolle auf jeden Fall wiedergeboren werden. Jede Einmischung Pekings bei der Suche nach seiner Reinkarnation wies er strikt zurück.

Die chinesische Führung erhebt ihrerseits den Anspruch, den künftigen Dalai Lama auszuwählen. Man werde in eigener Regie eine Wiedergeburt in China suchen, die nur mit Genehmigung der Regierung “ernannt werden” dürfe. In seinem jüngsten Buch hatte der Dalai Lama indes betont, dass er “in der freien Welt” wiedergeboren werden wolle, damit sein Nachfolger ungehindert seine Aufgabe fortsetzen könne.

Über die Jahrzehnte hat sich der 14. Dalai Lama Respekt und Sympathie der internationalen Gemeinschaft erarbeitet. Was er nicht geschafft hat, ist, dort auch dauerhafte Unterstützung einer tibetischen Autonomie zu erhalten. Und wenn das einem langjährigen Friedensnobelpreisträger nicht gelungen ist, ist zweifelhaft, ob es seiner kleinkindlichen 15. Reinkarnation gelingen würde; umso mehr, als auch sie mit Sicherheit von China oder gar auch innertibetisch angefochten werden dürfte.

In der westlichen Welt ergeht es dem Dalai Lama und seinem Regierungschef eigentlich immer wie folgt: Solidarische Politiker treffen sich mit ihnen; doch die jeweilige Staatsspitze geht auf Distanz, um die eigenen Wirtschaftsbeziehungen mit China nicht zu gefährden. An diesem Kotau vor Peking hat sich seit stattlichen 75 Jahren nichts geändert. Es gibt sie doch, die Konstanten in der Weltpolitik.