Vertrauenskrise: Warum Katholiken aus der Kirche austreten

Missbrauchsskandal, fehlende Gleichberechtigung, Reformstau: Gründe für einen Kirchenaustritt gibt es viele. Drei Menschen berichten, was sie zu diesem Schritt bewegt hat – einer ist inzwischen wieder Kirchenmitglied.

Die katholische Kirche schrumpft weiter: Mehr als 400.000 Menschen in Deutschland sind im vergangenen Jahr aus der katholischen Kirche ausgetreten, wie die am Donnerstag von der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn vorgelegte Statistik verzeichnet.

Auch Winfried Wingert aus dem Bistum Hildesheim gehört zu denen, die der Institution Kirche den Rücken gekehrt haben. 40 Jahre lang arbeitete der 71-Jährige aus Bad Nenndorf als Pastoralreferent für die katholische Kirche, heute fühlt er sich “obdachlos katholisch”.

Wingert zweifelt das erste Mal daran, ob er noch guten Gewissens Mitglied der Kirche sein kann, als diese 2018 die erste große Studie zu Missbrauchsfällen veröffentlicht. “Diese Dimension hat mich erschüttert”, erklärt der frühere Gefängnisseelsorger, der nach dem Abitur zuerst Priester werden wollte, sich dann aber für die Seelsorge als Laien-Theologe entschied. Den ehemaligen und 1988 verstorbenen Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen, dem nicht nur Vertuschung, sondern selbst sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wird, kannte er gut. Dass dieser ein mutmaßlicher Täter gewesen sein soll, “damit hätte ich nie gerechnet”, sagt Wingert.

Die Protestbewegung Maria 2.0 fängt den Theologen in dieser Phase der Auseinandersetzung auf: “Das war so toll und so kraftvoll, dass ich dort mitmachen wollte. Und auch die Resonanz auf Maria 2.0 war so gewaltig, dass es mich motiviert hat, meine kirchliche Biografie weiterzuentwickeln”, erklärt er. Der Niedersachse betrieb noch beim Katholikentag in Erfurt im Juni dieses Jahres mit Maria 2.0-Mitstreiterinnen einen Stand – doch Mitglied der Kirche war er zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr.

“Für mich kam der endgültige Bruch mit dem Münchener Gutachten”, erklärt Wingert. Dieses 2022 veröffentlichte Missbrauchs-Gutachten des Erzbistums München und Freising belastete den emeritierten Papst Benedikt XVI. schwer. Als damaliger Münchner Erzbischof soll er in vier Fällen nichts gegen des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen haben. Wingert schaut sich damals die Pressekonferenz an und liest jedes Wort des Gutachtens.

“Zu erleben, wie er geantwortet hat und versucht hat, sich aus der Verantwortung zu stehlen, fand ich entsetzlich”, sagt Wingert. Dass der Bischof sonst immer der höchste Herrscher im Bistum ist, stets das letzte Wort hat, das sollte auf einmal nicht mehr gelten? Auf einmal sollten Priester Missbrauch sogar in ihrer Freizeit begangen haben, nicht in ihrer dienstlichen Funktion? “Es gibt keine Freizeitpriester”, findet Wingert. All diese Ausflüchte stoßen ihn ab: “Ich konnte es nicht mehr mittragen.”

Sein Termin beim Standesamt dauert keine fünf Minuten, dann ist der frühere Pastoralreferent ausgetreten. “Ich bin weiter katholisch, das kann ich nicht abstreifen”, sagt der 71-Jährige. Aber die Kirche interessiere ihn nicht mehr, er hält sie auch nicht mehr für reformierbar: “Der Austritt hat sich für mich vertieft, er war stimmig.”

Weiter im Osten der Republik, in Berlin, lebt und arbeitet Claudine Etavard. Die 38-Jährige wächst ähnlich wie Wingert “ziemlich katholisch” auf. Störgefühle hat sie aber schon als Kind: “Ich habe mit dem Konzept der Beichte gefremdelt und wollte deswegen auch nicht zur Kommunion.” Als Jugendliche lässt sie sich aber doch firmen und holt damit auch die Kommunion nach. Sie wird sogar Messdienerin. Über ihre Mutter, die sich verstärkt in der Gemeinde engagierte, fand sie damals wieder einen Zugang zur Kirche. “Es gab eine Zeit, in der Kirche für mich ein Heimatort war”, berichtet sie und erinnert sich, wie sehr ihr damals das soziale Miteinander gefallen habe.

Störgefühle blieben aber: “Ich fand das Frauenbild immer verquer und komisch und habe zum Beispiel nie verstanden, warum Frauen nicht Pfarrer werden dürfen”, sagt die Berlinerin, die in einem Beratungsunternehmen tätig ist. Dennoch heiratet Etavard 2009 auch kirchlich. Als es sie später für Jahre nach Südamerika zieht, sieht sie dort, “dass die Kirche Anteile an Missständen hat, sie sogar fördert”. Es gehe ihr um Machtstrukturen oder die Tabuisierung bestimmter Themen. Etavard beschäftigt sich damals auch mit der Geschichte der Missionierung in Südamerika: “Es sind sehr viele unrechte Dinge passiert, deren Narben man heute noch spürt.”

Etavard fremdelt immer weiter mit der Kirche. Die tausendfachen Missbrauchsfälle bringen das Fass schließlich zum Überlaufen. Die einst Kirchenverbundene erklärt, dass sie einerseits das Ausmaß des Skandals schockiert hat, andererseits der aus ihrer Sicht mangelnde Wille zur Aufarbeitung: “Dass keiner Verantwortung übernommen hat, das war eigentlich das Schlimmste für mich. Es hat die Rolle der Kirche als Zufluchtsort ad absurdum geführt.” Kirche – das sei einfach nicht mehr ihr Verein. Auch wenn es Werte und Menschen darin gebe, die sie unterstützenswert finde. Etavard tritt schon 2017 aus. Fragt man sie, ob sie sich vorstellen könne, dennoch irgendwann wieder in die Kirche einzutreten, sagt sie: “Lassen Sie es uns positiv formulieren: Würde ich mich über einen Anlass freuen zurückzukehren? Ja!”

Martin L. ist so ein “Rückkehrer”. Der 36-Jährige lebt in einer kleinen Gemeinde nahe Nürnberg und ist seit 2013 mit seinem Mann verheiratet. 2013 ist auch das Jahr seines Kirchenaustritts, denn “es war zu damaliger Zeit sehr unschön, wie mit uns als Paar umgegangen wurde”. Dabei waren Kirche und Glaube immer fester Bestandteil seines Familienlebens gewesen; der Wunsch nach einer kirchlichen Feier war groß. Aber in der Heimatgemeinde sei es “schier unmöglich” gewesen, eine wie auch immer gestaltete Segensfeier durchzusetzen. “Dabei heißt es doch: Vor Gott sind alle Kinder gleich. Aber wir sind nicht gleich”, kritisiert der Gesundheits- und Krankenpfleger, der als Teamleiter auf einer Palliativstation arbeitet.

Die Enttäuschung treiben ihn und seinen Mann aus der Kirche. “Uns wurde signalisiert, dass wir weniger wert sind als ein heterosexuelles Paar, obwohl wir uns genauso lieben wollen, in guten wie in schlechten Zeit, bis zum Ende unseres Lebens.” Doch trotz seines Austritts fühlt sich L. der Kirche weiter zugehörig und hadert in den nächsten Jahren mit seinem Austritt. Als dann seine Nichte 2023 geboren wird, steht für ihn fest: Ich trete wieder ein: “Taufpate meiner Nichte zu werden, ist für mich ein wahnsinnig wichtiger Schritt gewesen. Und auch meinem Bruder hat das sehr viel bedeutet.”

Also feiert erst Michael L. eine Wiedereintrittszeremonie in der Nürnberger City-Kirche St. Klara. Sie ist “offen für alle”, wie es auf der Website heißt, und gibt sich für L. Mühe, wie er berichtet. “Der Pfarrer und Pastoralreferent haben sich für mich eine Segensfeier überlegt, weil es für einen Wiedereintritt eigentlich keine festen Rituale gibt. Es war wirklich schön und besonders und kam fast einer Taufe gleich”, erinnert sich L. an die Feier im Februar dieses Jahre. Zwei Wochen später ist er wieder in der Kirche – als Taufpate seiner Nichte. Durch den Wiedereintritt, sagt der 36-Jährige, fühle er sich Gott und der Kirchengemeinde wieder verbundener und gestärkt. Sein Ehemann bleibe aber ausgetreten: “Da müsste sich kirchlich mehr tun, damit er wieder eintritt.”