Verein „Flüsterpost“ hilft Kindern krebskranker Eltern

Wenn ein Elternteil an Krebs erkrankt, ist das ein Schock für die ganze Familie. Der Mainzer Verein Flüsterpost hat ein offenes Ohr, insbesondere für Kinder und Jugendliche krebskranker Eltern. Er ist seit genau 20 Jahren bundesweit ein Vorreiter für die Belange der Betroffenen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht Anita Zimmermann, Mitbegründerin und Leiterin der Beratungsstelle, die auch Sprecherin eines bundesweiten Netzwerks zum Thema ist, über die heikle Frage: Wie sag ich’s meinem Kind?

KNA: Frau Zimmermann, wie finden die Kinder zu Ihnen?

Zimmermann: Der Kontakt kommt meist über Erwachsene zustande – betroffene Eltern, Angehörige oder auch Freunde der Familie. Auch Multiplikatoren wie Erzieher, Lehrer, Sozialpädagogen, Seelsorger, Psychologen, Therapeuten, Ärzte und Pflegepersonal wenden sich an uns. Ältere Kinder wenden sich auch direkt an uns.

KNA: Wie kam es überhaupt zu dem Namen und der Gründung?

Zimmermann: Ab 1991 habe ich 14 Jahre in einer Akutklinik in Alzey als Sozialpädagogin den Sozialdienst aufgebaut und geleitet. Dort habe ich den Sozialmediziner Gerhard Trabert kennengelernt, und zusammen haben wir auch Krebspatienten begleitet, die uns immer wieder gefragt haben, wie sie mit ihren Kindern über ihre Krankheit sprechen sollen.

Seinerzeit gab es in Deutschland fast keine Hilfsangebote und nur wenige weltweite Studien. Die haben aber alle festgestellt, dass es bei schwerwiegenden Erkrankungen und anderen Krisen wichtig ist, mit Kindern – egal wie alt sie sind – offen und ehrlich zu sprechen, für deren gesunde Entwicklung! Später hat Gerhard Trabert in Nürnberg eine Professur für Sozialmedizin angenommen, dort gab es dann ein erstes Projekt mit Studierenden zum Thema Kinder krebskranker Eltern und eine Studie.

KNA: Wie ging es dann weiter?

Zimmermann: Wir haben die vielen tollen Ideen der Studierenden und die Ergebnisse der Studie aufgegriffen und unseren Verein in Mainz gegründet. Der Name Flüsterpost ist das Synonym für das bekannte Spiel „Stille Post“. Es beschreibt gut, was passiert, wenn nicht deutlich kommuniziert wird. Missverständnisse und unnötige belastende Fantasien können schnell entstehen. Das Wortspiel ist auch eine gute Möglichkeit, um in Kindergärten und Schulen über Krebs und die Veränderungen ins Gespräch zu kommen.

Inzwischen gibt es bundesweit rund 70 Einrichtungen zu dem Thema. Aber es ist lange nicht genug. Die meisten Städte und ländlichen Gebiete sind total unterversorgt.

KNA: Wie können Sie Kindern konkret helfen?

Zimmermann: Eltern und Kinder wenden sich aus ganz Deutschland per Telefon oder Mail an uns, später auch über Whatsapp oder Signal. Auch Gespräche per Video sind möglich, was gerade in der Pandemie sehr hilfreich war.

Wir versuchen dabei immer, die Situation der ganzen Familie zu erfassen. Wer ist erkrankt? An welcher Krebsart? Wie ist die Lebenssituation aktuell? Welche Angehörigen gibt es? Wie alt sind die Kinder? Was wissen sie von der Erkrankung, welche Fragen haben sie? Wie haben sie auf die Nachricht reagiert, sind sie vielleicht „auffällig“ geworden? Erste wichtige Fragen können wir auch schon im ersten Austausch klären und viele hilfreiche Tipps geben.

KNA: Sie sind also auch für die Eltern da?

Zimmermann: Ja, denn sie machen sich verständlicherweise große Sorgen, auch um die Kinder. Gerade am Anfang der Diagnose müssen sie viele Fragen klären, sich über die Art ihrer Krebserkrankung und Behandlung informieren und über etwaige Auswirkungen und Veränderungen im Alltag. Wenn man das geklärt und sich mit dem Partner oder der Partnerin – sofern vorhanden – abgesprochen hat, ist ein guter Zeitpunkt für ein Gespräch mit den Kindern, am besten als ganze Familie.

KNA: Wie geht man da am besten vor?

Zimmermann: Man muss den Kindern nicht immer sofort alles sagen, was man weiß. Aber alles, was man sagt, muss wahr sein – das ist einer unserer Leitsätze. Das gilt immer, egal ob kurz nach der Diagnose oder auch wenn eine Therapie nicht geholfen hat oder es keine Aussicht auf Heilung mehr gibt.

KNA: In welchem Rahmen sollte das erste Gespräch stattfinden?

Zimmermann: Wenn man sich selbst Klarheit über die Erkrankung und Therapie verschafft hat, sollte man sich in einer ruhigen Atmosphäre bewusst die Zeit dafür nehmen. Wenn man sich das selbst nicht zutraut, kann man neben dem Partner oder der Partnerin auch andere vertraute Personen dazu bitten. Alle Kinder sollten gemeinsam über das Wichtigste informiert werden und die Möglichkeit bekommen, Fragen zu stellen. So sind alle in einem Boot, und der erste Schritt zur offenen Kommunikation ist getan. Danach kann man bei Bedarf auch einzeln und altersgemäß mit den Kindern sprechen.

Auf unserer Homepage gibt es auch Buchempfehlungen, Informations- und Bastelmaterialien für Eltern und Kinder, die helfen, miteinander ins Gespräch zu kommen.

KNA: Was macht es überhaupt mit einem Kind oder Jugendlichen, wenn ein Elternteil an Krebs erkrankt ist?

Zimmermann: Meist ist es zunächst für alle ein Schock. Kinder sollten dennoch zeitnah ins Boot geholt werden. Sie sollten nicht hinten herum erfahren, dass jemand in der Familie Krebs hat. Unsere Erfahrung ist, dass Kinder – egal wie alt sie sind – wissen wollen, was in der Familie los ist. Schließlich sind sie Teil der Familiensystems und spüren, wenn sich Stimmungen verändern. Sie wollen informiert sein und sich am Prozess beteiligen können.

KNA: Was passiert, wenn Eltern das Thema verheimlichen möchten?

Zimmermann: Wenn die Kinder erleben, dass die Eltern von sich aus nichts sagen, dann trauen sie sich oft nicht, Fragen zu stellen. Genauso wie die Eltern die Kinder schützen wollen, schützen auch Kinder die Eltern. Wenn Kinder nicht wissen, was passiert ist, suchen sie selbst nach Antworten, die viel belastender sein können als die Wahrheit. Oft glauben sie beispielsweise, dass sie selbst an der Erkrankung schuld sind. Deswegen sollte man mit dem Gespräch nicht allzu lange warten.

KNA: Was beschäftigt die Kinder?

Zimmermann: Sie wollen beispielsweise wissen, ob Krebs ansteckend ist, was man dagegen tun kann und, wie sie helfen können. Sie wollen wissen, ob die erkrankte Person wieder gesund wird oder sterben muss. Kinder denken oft schon voraus, wovor die Erwachsenen Angst haben. Wir nehmen den Beteiligten die Angst, offen miteinander zu sprechen, damit sich alle gegenseitig besser unterstützen können.

Ein Neunjähriger hat mir einmal gesagt, dass er glaubt, dass sein dreijähriger Bruder Schuld an der Krebserkrankung seiner Mutter ist. Der kleine Bruder hat im elterlichen Bett geschlafen und beim Umdrehen seiner Mutter versehentlich in die Brust getreten. Ich habe ihm versichert, dass nur durch solch einen Tritt kein Krebs entsteht. Glücklicherweise hat der Junge seine Gedanken ausgesprochen. Stellen Sie sich mal vor, er trägt diesen Gedanken sein Leben lang mit sich herum oder hält das im Streit seinem jüngeren Bruder vor…

KNA: Wie schwer fällt es Kindern überhaupt, über das Thema zu reden?

Zimmermann: Manche haben ein großes Mitteilungsbedürfnis, andere warten erst mal ab, brauchen ganz viel Vertrauen, oder verschließen sich auch. Man kann ihnen dann sagen: „Es ist okay, wenn Du jetzt nicht reden möchtest. Aber vielleicht gibt es mal einen Moment, wo Du das brauchst. Du sollst wissen, Du kannst jederzeit zu mir kommen, oder suche Dir eine andere vertraute Person. Die Hauptsache ist, dass Du Dir Luft machst. Denn wenn Du nicht über Deine Sorgen sprichst kann es sein, dass Dein Körper reagiert oder Du Dich insgesamt schlecht fühlst.“

KNA: Was tun, wenn ein Kind dennoch jedes Gespräch ablehnt?

Zimmermann: Ein Nein kann auch ein Selbstschutz sein, weil ein Kind ein Gespräch über Krebs im Moment nicht aushalten kann. Erwachsene können durch behutsames Nachfragen verstehen lernen, ob das Kind vor irgendwas Angst hat, oder ob es ein Missverständnis gibt. Aber es geht immer um Respekt, und niemand sollte zu etwas überredet werden!