Untersuchungen zu Missbrauch in den einzelnen Bistümern
Vor fünf Jahren, am 25. September 2018, hat die Deutsche Bischofskonferenz die sogenannte MHG-Studie zu sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige veröffentlicht. Seitdem haben zusätzlich mehrere der 27 katholischen Bistümer eigene Studien mit unterschiedlicher Zielrichtung vorgelegt. Weitere Bistümer haben Studien beschlossen oder in Auftrag gegeben. Für den gesamten Bereich der Orden gibt es noch keine wissenschaftliche Untersuchung.
Darüber hinaus gab es einzelne Sonderstudien: So haben die Bistümer Münster und Osnabrück eine gemeinsame Studie zum spirituellen Missbrauch begonnen. Die Deutsche Bischofskonferenz und das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat beauftragten eine Untersuchung, die sich mit Missbrauchstaten von ins Ausland entsandten Priestern befasste. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) verzeichnet die vorliegenden Studien der Bistümer nach Reihenfolge ihres Erscheinens.
– Juni 2020: Für das haben 70 überwiegend externe Fachleute den Umgang mit Missbrauch in den vergangenen 70 Jahren analysiert. Zugleich entwickelten sie rund 60 Vorschläge, wie systemische Faktoren künftig ausgeschlossen und Missbrauchstaten möglichst verhindert werden können. Bei der Analyse des Fehlverhaltens werden auch Namen genannt – etwa von Altbischof Franz Kamphaus sowie von früheren Generalvikaren und Personaldezernenten. Im September 2023 gab es eine erste Bilanz zu den Vorschlägen, verbunden mit der Ansage, die Aufarbeitung sei auf einem guten Weg, aber noch lange njcht abgeschlossen.
– November 2020: Ein Gutachten über den Umgang mit Missbrauchsfällen belastet Altbischof Heinrich Mussinghoff und seinen früheren Generalvikar Manfred von Holtum. Ihnen und den bereits verstorbenen Bischöfen Johannes Pohlschneider (1954 bis 1974) und Klaus Hemmerle (1975 bis 1994) sowie Generalvikar Karlheinz Collas (1978 bis 1997) attestiert die Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW), bis 2010 mehr am Schutz der Täter orientiert gewesen zu sein als an der Fürsorge für die Opfer. Zudem habe es erhebliche Lücken in den Akten und große „systemische Defizite“ gegeben.
– Januar und Juni 2021: Das veröffentlicht sein Gutachten in zwei Teilen. Es entschied bei der Bekanntgabe des Gutachtens Ende Januar, Details der Fälle von 61 beschuldigten Geistlichen und von mindestens 121 betroffenen Kindern und Jugendlichen zunächst nicht zu veröffentlichen, um Fragen des Datenschutzes zu klären. Dies betraf auch die dazu gehörenden Stellungnahmen von Personalverantwortlichen, unter anderem von Erzbischof Heiner Koch selbst, seinem Amtsvorgänger Rainer Maria Woelki sowie Weihbischof Matthias Heinrich. Erstellt wurde das Gutachten von der Anwaltskanzlei „Redeker Sellner Dahs“.
– März 2021: Das von Kardinal Rainer Maria Woelki in Auftrag gegebene Gercke-Gutachten wirft früheren und amtierenden Verantwortungsträgern des insgesamt 75 Pflichtverletzungen vor. Darunter sind der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der früher Personalchef und Generalvikar im Erzbistum war, und Weihbischof Dominikus Schwaderlapp. Sie bieten noch am selben Tag Papst Franziskus ihren Rücktritt an. Woelki wird von der stark aus juristischer Perspektive erarbeiteten Studie entlastet. Zuvor hatte der Erzbischof Ende 2018 eine Untersuchung bei der Münchner Anwaltskanzlei WSW in Auftrag gegeben. Nachdem andere Juristen der Expertise „methodische Mängel“ bescheinigten, ließ Woelki sie nicht veröffentlichen, was zu heftiger Kritik führte.
– September 2021: Das hatte 2016 das sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut IPP mit der Untersuchung einzelner Missbrauchsfälle in der Diözese beauftragt. Das 2017 vorgestellte Gutachten wirft mehreren früheren und gegenwärtigen Verantwortlichen im Bistum schwere Versäumnisse vor. 2019 beauftragte das Bistum erneut Juristen und Sozialwissenschaftler mit der Untersuchung von Missbrauchsfällen während der Amtszeit von Bischof Heinrich Maria Janssen (1957-1982). Die im September 2021 vorgestellten Ergebnisse bringen im Vergleich zur MHG-Studie zehn neue Missbrauchsfälle ans Licht. Vorwürfe, dass sich Janssen selbst an Kindern vergangen haben soll, können beide Gutachten weder erhärten noch entkräften. Allerdings wird ihm nachgewiesen, Fälle von sexualisierter Gewalt wissentlich geduldet und vertuscht zu haben. Bischof Heiner Wilmer kündigt ein weiteres Aufarbeitungsprojekt an, das den Zeitraum von 1982 bis in die Gegenwart untersuchen soll.
– Dezember 2021: Eine Studie attestiert den früheren Erzbischöfen des , Lorenz Jaeger und Johannes Joachim Degenhardt, gravierendes Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchstätern unter den Geistlichen. Die von 1941 bis 2002 amtierenden Bischöfe hätten Beschuldigte geschützt und ihnen teils auch schriftlich Mitgefühl bekundet, heißt es in einem Zwischenergebnis der auf vier Jahre angelegten Studie, die vor allem historische Zusammenhänge, die Bewertungsmaßstäbe der Verantwortlichen und ihren Umgang mit Missbrauch rekonstruieren soll. Betroffenen gegenüber hätten die Kardinäle keine Fürsorge gezeigt.
– Januar 2022: Die Kanzlei WSW stellt die vom beauftragte Studie vor. Sie geht von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern aus. Den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger wird persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vorgeworfen – ebenso dem aktuellen Amtsinhaber, Kardinal Reinhard Marx.
– Juni 2022: Ehemalige und heute aktive Bischöfe haben einer Studie zufolge große Fehler im Umgang mit Missbrauchsfällen begangen. Seit 1945 hätten sie beschuldigte und verurteilte Geistliche immer wieder in der Seelsorge eingesetzt und damit weitere Taten ermöglicht, heißt es in der historisch angelegten Untersuchung, die systemische Zusammenhänge in der Institution, Verantwortlichkeiten, die Sexualmoral sowie das Selbst- und Fremdbild von Klerikern und Laien thematisiert. Zu den Verantwortlichen gehört Bischof Reinhard Lettmann (Amtszeit 1980-2008). Dem seit 2009 amtierenden Oberhirten Felix Genn bescheinigen die Autoren um die Historiker Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht, den Umgang mit Missbrauchsfällen verändert zu haben. In seinen ersten Jahren sei der Bischof Tätern kirchenrechtlich aber nicht immer mit der gebotenen Strenge begegnet.
– September 2022: Auch im haben Verantwortliche jahrzehntelang nicht pflichtgemäß auf Hinweise zu sexuellem Missbrauch reagiert. Bis in jüngste Zeit sei etwa zum Teil nachlässig kontrolliert worden, was mit Beschuldigten geschieht, die von ihrer Stelle entfernt wurden, heißt es in einer Studie der Uni Osnabrück. Lange Zeit seien „Geheimhaltung“ und „die Verhinderung von Bekanntwerden“ erkennbar „handlungsleitende Motive“ der Verantwortlichen gewesen. Die Diözese sei abwehrend und bürokratisch im Umgang mit Betroffenen sowie „knausrig“ in den Anerkennungszahlungen. Dem seit 1995 amtierenden Bischof Franz-Josef Bode bescheinigt die Studie Pflichtverletzungen „im niedrigen einstelligen Bereich“. Diese seien „fahrlässig, aber nicht vorsätzlich“ gewesen.
– Dezember 2022: Eine 2021 eingerichtete Kommission befasst sich mit der Aufarbeitung von Missbrauch im . Ein erster, im Dezember veröffentlichter Bericht der Universität Trier geht auf Missbrauch in der Zeit des früheren Bischofs Bernhard Stein (1903-1993) ein. Hunderte Kinder und Jugendliche wurden demnach in den 1960er bis 1980er Jahren von Priestern und Mitarbeitenden des Bistums sexuell missbraucht. Beschuldigte wurden nachsichtig behandelt, Stillschweigen über Taten bewahrt und Täter versetzt. Dabei gab es eine teilweise enge Kooperation der Bistumsverantwortlichen mit den Strafverfolgungsbehörden. Wie es den Betroffenen ging, wurde demnach als weitgehend unerheblich missachtet.
– Februar 2023: Das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) legt eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zu Missbrauch imvor. Die Studie untersucht auch soziologische Zusammenhänge. So wurden etwa erstmals auch die Folgen des Umgangs mit Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs in den Kirchengemeinden untersucht. Eine Haupterkenntnis ist, dass das Ruhrbistum bis 2010 unzureichend oder gar nicht auf Verdachtsfälle reagiert habe. Bis 2010 seien auch keine Bemühungen des Bistums festzustellen, Betroffene zu unterstützen oder ausfindig zu machen.
– Februar 2023: Ein Forschungsteam der Uni Ulm stellt im Auftrag des eine Studie zu sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche in vor. Dabei geht es erstmals auch um die Rolle des DDR-Regimes. Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche Mecklenburgs während der DDR-Zeit wurde danach nicht nur von der Kirche, sondern auch vom Staat vertuscht. So habe es zwischen beiden Seiten inoffizielle Abkommen gegeben, Vorkommnisse unter der Decke zu halten oder Wiederholungstäter in den Westen abzuschieben. Zudem seien beschuldigte Kleriker von der Stasi unter Druck zur Mitarbeit gezwungen worden.
– März 2023: Die Studie zu sexuellem Missbrauch bescheinigt den drei früheren Bischöfen Albert Stohr (1935-1961), Hermann Volk (1962-1982) und Karl Lehmann (1983-2016) einen verheerenden Umgang mit sexuellem Missbrauch. Dem populären Kardinal Lehmann wird ein Gegensatz zwischen seinem öffentlich-medialen Auftreten und seinem persönlichen Handeln attestiert. Betroffene hätten fast nie eine Rolle gespielt. Vielmehr hätten die Verantwortlichen darauf geachtet, das System katholische Kirche zu schützen. Dem amtierenden Bischof Peter Kohlgraf attestieren die Studienautoren die Bereitschaft, lernen und aufarbeiten zu wollen. Ziel der Studie war nicht eine juristische Aufarbeitung; vielmehr sollten die systemischen Ursachen erhellt werden.
– April 2023: Desinformation, Aktenfälschung, Vertuschung und Kaltherzigkeit gegenüber Opfern: Die Missbrauchsstudie für das wirft insbesondere dem früheren Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, und seinem Vorgänger Oskar Saier schwere Verfehlungen vor. Der Schutz der Institution Kirche und der Täter habe über allem gestanden.